Kampagne 18. Welttag gegen die Todesstrafe, 10. Oktober 2020

 

Zugang zu Verteidigung: eine Frage von Leben oder Tod


Für Menschen, denen die Todesstrafe droht, kann der Zugang zu einem Anwalt den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten. Der 18. Welttag gegen die Todesstrafe widmet sich dem Recht auf eine wirksame Verteidigung in allen Prozessphasen – und sogar danach.

 
 
 

Menschen, denen im Laufe ihres Gerichtsprozesses die Todesstrafe droht, haben ohne einen angemessenen Rechtsbeistand grosse Schwierigkeiten, sich gegen die ihnen angelasteten Anklagen zu verteidigen. In solchen Fällen ist eine wirksame Verteidigung lebenswichtig.


Ein Grundrecht

 

Die meisten Länder sehen in ihrer nationalen Gesetzgebung das Recht auf einen Anwalt vor. Auf internationaler Ebene ist dieses Recht in Strafprozessen ein Grundrecht, das alle wichtigen internationalen und regionalen Verträge garantieren. Leider gibt es in den Ländern, die an der Todesstrafe festhalten, viele Beispiele, wie dieses Recht in der Praxis ausgehöhlt wird. Strafverteidiger haben oft nicht genug Zeit, um mit ihren Mandanten zu sprechen oder ihr Dossier vor Prozessbeginn vorzubereiten. Viele Pflichtverteidiger sind überlastet. Einige Anwälte arbeiten in einem derart feindlichen Umfeld, dass sie selbst ihr Leben riskieren. Andere verfügen nicht über die nötige Erfahrung, um einen Mandanten mit drohender Todesstrafe erfolgreich zu vertreten, sie werden für ihre Arbeit nicht angemessen entlöhnt oder haben nicht einmal genügend Mittel für Grundausgaben. In Tansania zum Beispiel müssen Anwälte die Gefängnisbesuche bei ihren Klienten manchmal selber berappen, während Anwälte in Kenia schon in das eigene Portemonnaie greifen mussten, um bestimmte Verfahren wie die Beschaffung des Dossiers zu bezahlen.

 
 

Strafverteidiger haben oft nicht genug Zeit, um mit ihren Mandanten zu sprechen oder ihr Dossier vor Prozessbeginn vorzubereiten. Viele Pflichtverteidiger sind überlastet. Einige Anwälte arbeiten in einem derart feindlichen Umfeld, dass sie selbst ihr Leben riskieren.

 
 

Eine unwirksame anwaltschaftliche Vertretung höhlt das Recht auf Verteidigung aus. Ein fairer Prozess ist so nicht mehr möglich. Einer Studie aus den Vereinigten Staaten zufolge haben Menschen, die in Texas in der Todeszelle sitzen, ein Risiko von eins zu drei, hingerichtet zu werden, ohne dass ihr Fall von einem qualifizierten Anwalt überprüft wurde oder ohne dass die für ihre Verteidigung als kritisch erachteten Elemente dem Gericht vorgelegt wurden.

 
 
 

 
 

JAPAN

Teppei Ono
Rechtsanwalt und Mitglied der Arbeitsgruppe für die Abschaffung der Todesstrafe des Verbandes der Japanischen Anwaltskammern

 

«Japanische Todestrakt­insassen sind einer extremen Isolation ausgesetzt. Begründet wird dies mit der Notwendigkeit, ihren ‹Seelenfrieden› zu bewahren. Somit sind sie gezwungen, einfach ihre Hinrichtung abzuwarten und sind anfällig für psychisches Leiden. […] Derart strenge Einschränkungen hindern sie jedoch daran, persönliche Beziehungen aufzubauen oder zu pflegen – oder gar Rechtsbeistand zu erhalten. […]   
Einige Teile meiner Korrespondenz […] [an einen Häftling im Todestrakt des Tokioter Gefängnisses] wurden zensiert, einschliesslich derer, in denen ich meine Funktion als Rechtsbeistand ausübte.»


Foto von Teppei Ono zur Verfügung gestellt

 
 
 

 
 

IRAN
Mohammadreza Haddadi
2003 im Alter von 15 Jahren zum Tode verurteilt und immer noch inhaftiert


«Bei der Verhandlung war niemand von der Gerichtsmedizin anwesend [um Beweise im Zusammenhang mit dem Verbrechen vorzulegen]. Bei der zweiten Sitzung waren nur die Angehörigen des Opfers und mein Vater anwesend. Bei der ersten Sitzung hatte ich keinen Anwalt. In der zweiten Sitzung hatte ich zwar einen Pflichtverteidiger, aber ich weiss nicht, ob er bezahlt wurde oder nicht, ob sie mit ihm gesprochen haben oder nicht. Ich weiss es nicht. Ich habe ihn nirgendwo getroffen, nicht einmal im Gefängnis. Er tauchte einfach bei der zweiten Sitzung auf, fachsimpelte ein wenig, und ich hatte das Gefühl, dass er für die Richter sprach. Er hat nichts in meinem Namen gesagt.»  


Quelle: Abdorrahman Boroumand Center, Interview im Gefängnis im Jahr 2016 (Bild: Twitter)

 
 
 

 
 

KENIA
Gatambia Ndung’u
Anwalt


«Leider ist es nicht ungewöhnlich, dass Mordverdächtige – normalerweise die einzigen zum Tod Verurteilten, denen ein staatlich finanzierter Anwalt angeboten wird – ihren Anwalt zum ersten Mal vor Gericht treffen, während des Plädoyers [...].  
Ich habe eine solche Situation selber erlebt […]. Am Tag der Verhandlung wurde ich eingeladen, einen Mandanten zu vertreten, der mit dem ursprünglich vom Gericht bestellten Anwalt gestritten hatte. Ich traf meinen Mandanten zum ersten Mal im Gerichtssaal, in den Zellen, die für die Haft vor dem Prozess vorgesehen sind, und ich konnte nur wenige Informationen über die geplante Aussage der Anklage vor Gericht sammeln. Glücklicherweise war diese Aussage nicht die komplexeste, und ich denke, mein Kreuzverhör verlief gut. Danach konnte ich Gefängnisbesuche arrangieren und sogar Zeugen für eine Aussage zu Gunsten meines Mandanten gewinnen. Schliesslich entkam mein Mandant dem Galgen, nachdem seine Mordanklage in Totschlag umgewandelt wurde. […]»


Foto von Gatambia Ndung’u zur Verfügung gestellt

 
 
 

Verteidigung bereits ab der Verhaftung  

Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbeistand beginnt bereits zum Zeitpunkt der Festnahme. Der Angeklagte muss von einem Anwalt unterstützt werden, der sich für seine Freilassung einsetzt. Wenn eine Untersuchungshaft unvermeidlich ist, muss der Anwalt versuchen, die Auswirkungen der Haft auf die Gesundheit und das Wohlbefinden des Angeklagten zu begrenzen.

 

Verteidigung während des Prozesses und der Verurteilung

Für eine Person, der die Todesstrafe droht, ist die vorgerichtliche Untersuchung einer der wichtigsten Aspekte einer wirksamen Rechtsvertretung. Sie kann die Unschuld des Angeklagten erhärten. Selbst wenn sich herausstellt, dass die Anschuldigungen stimmen, bleibt die Untersuchung entscheidend, um mögliche mildernde Umstände zu identifizieren. Die persönliche und familiäre Geschichte sowie die Umstände des Verbrechens müssen sorgfältig recherchiert werden.  
Während des Prozesses trägt der Anwalt zusätzlich die Verantwortung dafür, dass das Gericht den Grundsatz eines fairen Verfahrens strikt einhält und durchsetzt.
In Ländern, die eine separate Strafanhörung kennen, bietet diese Prozess­phase eine weitere Gelegenheit, um gegen die geforderte Todesstrafe zu argumentieren.

Die Berufung

Die Berufungsmöglichkeiten variieren von einem Rechtssystem zum anderen, aber die verurteilte Person sollte nach der Verurteilung das Recht auf Rechtsbeistand behalten. Trotzdem ist das Recht auf Berufung keineswegs überall auf der Welt anerkannt, und mangels eines Anwalts ist es vielen zum Tod verurteilten Gefangenen einfach unmöglich, Berufung einzulegen.   
Das Fehlen einer wirksamen Rechtsvertretung vor Gericht kann übrigens die Grundlage für eine Berufung bilden.

 
 
 

 
 

VEREINIGTE STAATEN
Patrick Mulvaney
Leitender Anwalt des Southern Center for Human Rights


«Nichts vonseiten der Verteidigung, Euer Ehren.»  
«Dieses Zitat stammt von einem Pflichtverteidiger. Er sagte dies in der Urteils­phase bei einem Prozess wegen Kapitalverbrechens – in dem Augenblick also, in dem er darlegen konnte, warum das Leben seines schwarzen Mandanten es wert war, verschont zu werden.  
Seine Aussage war ganz klar nicht auf einen Mangel an mildernden Umständen zurückzuführen. Der Klient war ein geistig behinderter Teenager. Seine Kindheit war von Traumata und Vernachlässigung geprägt, und er war nicht derjenige, der bei dem Mord, für den er verurteilt wurde, den Schuss abgegeben hatte. Trotzdem: «nichts vonseiten der Verteidigung, Euer Ehren». Und der Klient wurde zum Tode verurteilt.»


Foto: Southern Center for Human Rights

 
 
 

 
 

VEREINIGTE STAATEN
Elisabeth Vartkessian
Gründerin und Leiterin von Advancing Real Change, einer gemeinnützigen Organisation, die Biografieforschungen durchführt für mittellose Angeklagte, denen die Todesstrafe droht.


«Wenn Geschworene eine vollständige, präzise Geschichte über den Angeklagten hören, können sie leichter verstehen, in welchem Zusammenhang das Verbrechen passiert ist. Sie können sich auch mit Charaktereigenschaften des Angeklagten identifizieren, die ihn in ihren Augen menschlicher machen. Ein Angeklagter mag beispielsweise ein guter Vater sein, ein liebender Sohn, fleissig oder religiös. Statt ihn als unmenschliches Wesen zu betrachten, kommen die Geschworenen dazu, den Angeklagten als einen Menschen zu sehen, der etwas Schreckliches getan hat. Unter diesen Umständen macht der Impuls zur Vergeltung häufig einem Entscheid für das Leben Platz.»


Quelle: Interview mit ACAT-Schweiz, 2019 (Foto: Advancing Real Change, inc.)

 
 
 

 
 

MALAWI
John Nthara und Jamu Banda
John und Jamu wurden unschuldig wegen Mordes verurteilt und erst 21 Jahre später freigelassen.


«Wir sind wegen des Todes eines Mannes verhaftet worden, der bei einem tragischen Unfall ums Leben kam. Wir haben versucht, ihm zu helfen, aber wir wurden verhaftet und des Mordes angeklagt, obwohl es keinerlei Beweise gab. Weil unsere Familien wussten, dass wir unschuldig waren, entschieden sie, uns zu helfen, auch wenn sie arm waren. Sie verkauften ihre wenigen Habseligkeiten, um einen Anwalt mit unserer Vertretung zu beauftragen. Doch noch vor dem Verhandlungstag haute der Anwalt ab, und nun stand uns ein Prozess wegen Kapitalverbrechens bevor, ohne Anwalt.  
Wir wurden für ein Verbrechen verurteilt, das wir nicht begangen hatten, und sassen 21 Jahre im Gefängnis. Wir versuchten, Berufung einzulegen, aber ohne einen Anwalt, der uns vertrat, wurde unsere Berufung nie gehört. Als wir schliesslich durch das «Resentencing»-Projekt in Malawi einen Anwalt bekamen, konnten wir zum ersten Mal den echten Beweis für unseren Fall vorlegen. Seine Hilfe war für uns entscheidend, und wir sind endlich zu Hause bei unseren Familien. »

Foto: John Nthara und Jamu Banda beim Verlassen des Gefängnisses. (Cornell Center on the Death Penalty Worldwide) 

 
 
 

Ganz am Ende des Verfahrens und sogar nach der Hinrichtung

Auch nachdem alle Berufungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind, ist die fachliche Unterstützung durch einen kompetenten Anwalt oft nützlich und notwendig. Wenn der Stress des Prozesses nachgelassen hat, Stille in den Gerichtssaal eingekehrt ist und eine letzte Begnadigung durch den Präsidenten leider abgelehnt wurde, sind die Verurteilten oft auf sich allein gestellt und müssen mit einer bedrückenden Leere zurechtkommen. Die Anwesenheit eines kompetenten Juristen bleibt in den letzten Augenblicken des Lebens sehr kostbar. Dies gilt umso mehr, wenn diese Periode sehr lange andauert, was zum Beispiel in den Vereinigten Staaten oft der Fall ist. In anderen Ländern, wie zum Beispiel Belarus, werden Verurteilte erst in letzter Minute über ihre bevorstehende Hinrichtung informiert. In diesen Momenten ist der Rat eines Anwalts wichtig – nicht nur, um den Verurteilten und die Familie psychologisch zu begleiten und ihnen zu zeigen, dass sie nicht vergessen werden, sondern auch, um juristisch in die verschiedenen administrativen Schritte einzugreifen. Unter Umständen kann mit einem letzten Rechtsverfahren auf eine Wendung in letzter Minute in der Strafsache gegen den Verurteilten reagiert werden. In Belarus wird die Familie erst Wochen nach der Hinrichtung über den schicksalhaften Tag informiert, und die Behörden weigern sich, den Ort bekannt zu geben, wo der Leichnam ihres Angehörigen begraben ist. Deshalb ist die Begleitung von Familie und Verwandten auch nach der Hinrichtung wichtig und kann als Teil des Verfahrens betrachtet werden.

 
 

Während wir auf die vollständige und möglichst rasche Abschaffung der Todesstrafe weltweit und für alle Verbrechen hinarbeiten, ist es von entscheidender Bedeutung, die Zivilgesellschaft und die internationale Gemeinschaft auf die absolute Notwendigkeit aufmerksam zu machen, dass Menschen, die mit dieser grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Strafe konfrontiert sind, in allen Phasen des Strafverfahrens zumindest Zugang zu einer wirksamen Rechtsvertretung haben – damit sie die Todesstrafe vermeiden und wenn nicht, angemessene Rechtsmittel einlegen können. Denn in Erwartung der definitiven, raschen und weltweiten Abschaffung der Todesstrafe bedeutet jedes Todesurteil, das nicht ausgesprochen wurde, ein gerettetes Menschenleben.

 
 
 

 

ACAT-Kampagnendossier (PDF)

 

Weiteres Material der Weltkoalition gegen die Todesstrafe (auf Englisch oder Französisch) bei der Weltkoalition gegen die Todesstrafe.

 
 

Letztjährige Kampagne:

«Mitgehangen: Kinder der Todesstrafe»