Interview


«Jeder verdient eine Chance, dass seine Geschichte erzählt wird»

 

Elizabeth Vartkessian erforscht und erzählt die Lebensgeschichte von Angeklagten, denen die Todesstrafe droht. Sie will dadurch die Menschenwürde ins Zentrum des Rechtsverfahrens stellen.

 

Während ihres Besuchs in der Schweiz letzten Oktober hatte ACAT-Schweiz die Gelegenheit, mit Elizabeth Vartkessian zu sprechen.

 

Frau Dr. Vartkessian, warum haben Sie begonnen, Lebensgeschichten zu untersuchen?
Ich begann 2004 als Ermittlerin an der Verteidigung von Kapitalverbrechen in Texas zu arbeiten. Während der ersten Arbeitsjahre beschäftigte mich eine zentrale Frage: Warum enden einige Fälle mit lebenslänglicher Haft, während vergleichbare Fälle mit Todesstrafe enden? Die Frage brachte mich dazu, Forschung zum Thema zu betreiben. Ich fand heraus, dass viele der Gründe wenig mit dem Verbrechen an sich zu tun hatten – die Verbrechen waren alle erschütternd. Der Unterschied zwischen Tod und Leben hing mit den Nachforschungen zur Geschichte des Angeklagten zusammen und damit, wie viel davon den Geschworenen vorgelegt wurde. 2014 gründete ich Advancing Real Change, Inc., eine gemeinnützige Organisation die Biografieforschung für ärmere Angeklagte betreibt, denen die Todesstrafe droht, oder für Personen, denen für Verbrechen vor ihrem 18. Geburtstag lebenslängliche Haft droht. Ich mache diese Arbeit, weil ich glaube, dass jeder eine Chance verdient, dass seine Geschichte erzählt wird.

 

Die Lebensgeschichte des Angeklagten zu hören kann über Leben und Tod entscheiden?
Es ist sehr schwierig, jemandem ein Leid anzutun, wenn man mit ihm Mitgefühl hat und sich mit ihm als Mensch identifizieren kann. Jemanden zum Tod zu verurteilen ist ein extremes Leid. Für meine Forschungsarbeit und als Ermittlerin habe ich um die hundert Menschen befragt, die als Geschworene an Verfahren beteiligt waren, die mit einem Todesurteil enden konnten. Ein durchgehendes Motiv in all den Gesprächen war, dass Geschworene ein Todesurteil fällen, wenn sie das Gefühl haben, der Angeklagte sei nicht zu retten. Anders gesagt: Geschworene haben keine Gnade für Leute, bei denen sie keine Hoffnung auf Wiedergutmachung sehen.

 

Wie bringen Sie Geschworene dazu, Mitgefühl mit dem Angeklagten zu spüren?
Wenn Geschworene eine vollständige, präzise Geschichte über den Angeklagten hören, können sie leichter verstehen, in welchem Zusammenhang das Verbrechen passiert ist. Sie können sich auch mit Charaktereigenschaften des Angeklagten identifizieren, die ihn in ihren Augen menschlicher machen. Ein Angeklagter mag beispielsweise ein guter Vater gewesen sein, ein liebender Sohn, fleissig oder religiös. Statt ihn als unmenschliches Wesen zu betrachten, kommen die Geschworenen dazu, den Angeklagten als einen Menschen zu sehen, der etwas Schreckliches getan hat. Unter diesen Umständen macht der Impuls zur Vergeltung häufig einem Entscheid für das Leben Platz.

 

Sind Ihre Nachforschungen ein obligatorischer Teil der Verfahren um die Todesstrafe?
In jedem Fall, in dem die Todesstrafe im Raum steht, braucht der Verteidiger jemanden, der den Sachbestand recherchiert («fact investigator») und jemanden, der Nachforschungen zu mildernden Umständen macht («mitigation investigator»). Letzterer muss sich mit der sozialen, biologischen und psychologischen Vorgeschichte des Angeklagten über die letzten drei Generationen beschäftigen. All unsere Klienten können sich keinen Verteidiger leisten, daher bekommen sie vom Gericht einen gestellt. Da die meisten Pflichtverteidiger keine Ermittler in ihrer Kanzlei haben, werden wir von Gerichten aus den ganzen USA beauftragt, die Nachforschungen zu mildernden Umständen zu machen.


Wenn Sie vom Gericht bestellt werden, warum ist Advancing Real Change, Inc. dann eine gemeinnützige Organisation?

Wir sind bemüht, jedem einzelnen Klienten die bestmögliche Verteidigung zu bieten. In der Praxis bedeutet das, dass wir wesentlich mehr Arbeit machen als die, für die wir bezahlt werden. Um die Differenz zu decken, müssen wir zusätzliche Mittel beschaffen. Wir haben auch einen Lehrauftrag gegenüber anderen Verteidigern. Diesen bieten wir niederschwellig an mit kostenlosen Schulungen und Beratungen. Auch für diese Angebote müssen wir Fundraising betreiben.

 

Bedeutet die Tatsache, dass Sie von zusätzlichen Spenden abhängig sind, dass das Konzept der mildernden Umstände nicht besonders entwickelt ist in Fällen mit möglicher Todesstrafe?

Eine schwierige Frage. In der amerikanischen Rechtsprechung ist es weit ausgebaut. Doch viele Verteidiger und einige Gerichte missverstehen weiterhin, was Nachforschungen zu mildernden Umständen sind, und wie sie angestellt werden müssen, um von Nutzen zu sein. Viele Menschen behaupten, für solche Nachforschungen qualifiziert zu sein, haben aber keine angemessene Ausbildung dafür. Dies ist ein weiterer Grund, warum Advancing Real Change, Inc. kostenlose Unterstützung anbietet: Wir wollen, dass diejenigen, die diese Arbeit machen, sich an die professionellen Standards halten.

 

Sie verteidigen Menschen, denen schreckliche Verbrechen angelastet werden. Wie reagieren die Opfer der Angeklagten auf Ihre Arbeit?

Ich habe bei meinen Ermittlungen in Strafverfahren nicht viel Kontakt mit den Opfern und ihren Angehörigen. Als Forscherin jedoch konnte ich Zeit mit ihnen verbringen. Sie haben mir von gemischten Gefühlen berichtet, auch von Frustration über das System, das es für sie schwierig macht, zu verstehen, was gerade passiert. Viele Opfer wollen wissen, warum etwas Schreckliches geschehen ist. Während der Gerichtsverhandlungen können sie diese Antworten nicht kriegen. Ich habe herausgefunden, dass die Opfer, unabhängig von der Vorstellung darüber, was mit dem Täter zu geschehen habe, letztlich wünschen, dass sie zumindest mehr erfahren. Die Biografieforschung hat zum Ziel, den Menschen möglichst viele Informationen über den Angeklagten zu geben. Ich hoffe, dass dies ein wenig Erleichterung bringen kann.

 

Wie können diese Informationen Erleichterung bringen?
Ich habe Zeit mit den Opfern verbracht und habe dabei erfahren, dass es für sie keinen Schlussstrich gibt. Unsere Biografieforschung zu den Angeklagten ist ein Versuch, im scheinbar Sinnlosen ein wenig inneren Sinn zu finden.

 

Die Todesstrafe wird oft als einzige angemessene Strafe betrachtet für Personen wie Terroristen, die für viel Leid und Schaden verantwortlich sind. Was meinen Sie dazu?
Fälle von Terrorismus werden in der Regel auf Bundesebene verhandelt, wo mehr Mittel zur Verfügung stehen. Das führt oft dazu, dass Todesurteile vermieden werden. Der «Unabomber» Ted Kaczynski beispielsweise wurde nicht zum Tod verurteilt, genauso wenig wie der strategische Kopf hinter den Anschlägen vom 11. September 2001, Zacharias Moussaoui. Die meisten Menschen im Todestrakt gehören zu den Schutzbedürftigsten überhaupt, viele sind psychisch krank oder geistig behindert und haben eine erbärmliche rechtliche Vertretung.


Welche Muster erkennen Sie, wenn Sie Fälle Ihrer Biografieforschung vergleichen?
Wir sehen Generationen ohne Zugang zu Gesundheitsversorgung; extreme Armut, gewalttätige Eltern, die ihre Kinder verwahrlosen lassen; fehlende sichere Räume, eingeschränkten Zugang zu guter Bildung sowie Vernachlässigung. Das Vorhandensein solcher Muster bedeutet, dass Massnahmen möglich wären, um Morde zu verhindern und die Gesellschaft sicherer zu machen. Die Todesstrafe erreicht dies nicht. Stattdessen kann sie weit mehr psychologischen Schaden bei den Hinterbliebenen erzeugen.

 

Wann ist Ihre Biografieforschungs-Arbeit erfolgreich?
Jedes Mal, wenn ein Klient der Todesstrafe entgeht, erlebe ich einen kurzen Moment der Erleichterung. Den Bruchteil einer Sekunde später kommen mir normalerweise die Tränen, denn ich weiss: Das bedeutet, dass mein Klient wohl im Gefängnis sterben wird, was ich auch für Folter und für unnötig halte. Von daher gibt es keine persönliche Freude am Ergebnis, aber im Kontext des Systems, das wir haben, ist das der Erfolg.

 

Sie befassen sich jeden Tag mit schrecklichen Schicksalen – warum machen Sie diese Arbeit?
Das US-amerikanische Rechtssystem vermitelt den Eindruck von Fairness, aber es funktioniert nicht fair. Mit unserer Arbeit versuchen wir das System dazu zu zwingen, unseren Klienten ihre verfassungsmässigen Rechte zu geben. Ich glaube auch, dass der Mensch belastbar und in der Lage ist, ein besseres Ich zu werden. Ich habe viele Menschen kennengelernt, die sich gewandelt haben, vorbildliche Insassen geworden sind, hilfsbereite Freunde oder Pädagogen, und eine neue Rolle im Leben angenommen haben – Menschen sind rehabilitiert worden. Ich mache diese Arbeit, weil mir all die Menschen, die in die Mühlen der Strafjustiz geraten, sehr am Herzen liegen. Wenn es uns wirklich darum ginge, Tragödien zu vereiteln, die Erfahrungen der Opfer besser aufzuarbeiten und Tätern mit unseren Strafen eine Rehabilitation zu ermöglichen, würden wir Vieles anders machen. Ich stelle mir ein System vor, in dem wir Menschen nicht so sehr verletzen, wie ich es hier beschreibe – sowohl die Opfer wie auch die Angeklagten – und ich glaube, dass das möglich ist.

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Elizabeth Vartkessian

 

 

Elizabeth Vartkessian, Ph.D. Jus, lebt und arbeitet in Baltimore, Maryland. Sie gründete und leitet Advancing Real Change, Inc., eine gemeinnützige Organisation, die Biografieforschungen durchführt für mittellose Angeklagte, denen die Todesstrafe oder lebenslange Haft für Straftaten vor ihrem 18. Geburtstag droht.


Ausserdem ist Dr. Vartkessian Forscherin beim Capital Jury Project (University at Albany, New York), einem von der National Science Foundation geförderten Forschungsprojekt, das sich mit der Entscheidfindung von Geschworenen in Fällen mit drohender Todesstrafe befasst.

 
 

Biografieforschung


Im Mittelpunkt der Biografieforschung («life history investigation») steht eine angeklagte Person, zumeist jemand, dem die Todesstrafe oder eine andere schwere Strafe droht. Die Ermittler sammeln detaillierte Daten ihrer Familie über drei Generationen hinweg. Sie führen persönliche Gespräche mit möglichst vielen Bezugspersonen: Familie, Freunden, Bekannten und der Gemeinschaft. Dieses breite Spektrum an Nachforschungen kann Verhaltensmuster, Traumata, psychische Probleme und andere Faktoren aufdecken – Muster, die der Staatsanwaltschaft, dem Richter und den Geschworenen den nötigen Hintergrund geben, um gerechte Entscheidungen treffen zu können. Einfacher ausgedrückt: Biografieforschung ebnet einen breiten Weg, auf dem der Angeklagte während des gesamten Verfahrens ganzheitlich gesehen wird.

 
 
 
 
 

Muster-Kollektenansage

 

Die heutige Kollekte ist bestimmt für die Menschenrechtsorganisation
ACAT-Schweiz – die Aktion der Christen für die Abschaffung der Folter und der Todesstrafe. Aus christlicher Überzeugung setzt sich ACAT dafür ein, dass jeder Mensch weltweit Schutz vor Folter und Todesstrafe erfährt. ACAT führt mehrere jährliche Kampagnen durch, um die Öffentlichkeit für die Problematik von Folter und Todesstrafe zu sensibilisieren. Mit Briefaktionen intervenieren ACAT-Mitglieder zu Gunsten von Personen, die gefoltert worden sind oder denen Folter oder die Todesstrafe drohen. Finanziert wird die Arbeit von ACAT-Schweiz durch Mitgliederbeiträge, Spenden und Kollekten.
 
Herzlichen Dank für Ihre Unterstützung – für die Menschenrechte!
 
Jeder Franken ist ein Beitrag «für eine Welt frei von Folter und Todesstrafe».