Yavuz Binbay - ein Folterüberlebender will die Spirale der Gewalt durchbrechen

 
 
Yavuz Binbay ist der Gründer von SOHRAM, einem Zentrum für Hilfe an Opfer von Folter und Gewalt. Dieses befindet sich in der mehrheitlich von Kurden bewohnten Stadt Diyarbakir und bietet als erste Institution in der Region psychologische Hilfe an.

 

Yavuz Binbay, 1956 in der Stadt Siirt im Südosten der Türkei geboren, stammt aus einer arabisch-kurdischen Familie sufistischer Tradition. „Ich sprach zu Hause arabisch und mit meinen Freunden kurdisch. Türkisch habe ich in der Schule gelernt.“ Eine von den Behörden verleugnete gemischte Identität: „Als ich geboren wurde, durfte mein Vater mir nicht meinen Vornamen geben. […] Yavuz ist der türkische Vorname, den mir der Gouverneur gegeben hat.“

 

 
 

Von den Militärs verhaftet und gefoltert

 

Nach dem Geologiestudium mit Spezialisierung in der Erdölförderung arbeitet Yavuz Binbay als Ingenieur im ostanatolischen Van. Nach dem Militärputsch von 1980 wird er verhaftet und in einem Militärgefängnis gefangen gehalten. „Das war schlimmer als Guantánamo. Ständig gab es neue Foltermethoden“, sagt dieser ehemalige Häftling, der dank seines Glaubens durchgehalten hat.

 

Als „Separatist, Kommunist, Kurde“ angeklagt und von einem Militärgericht verurteilt, wird er schliesslich nach sechseinhalb Jahren Gefängnis freigesprochen. Nach der Freilassung kehrt er zu seiner Frau und seinem Sohn in Van zurück. Seine Frau ist selber mehrmals verhaftet worden. „Wegen des Polizeigewahrsams konnte sie während zwei Jahren nicht für unseren Sohn sorgen“, erklärt Yavuz Binbay bewegt.

 

1986 gründet er mit türkischen und kurdischen Freunden die türkische Menschenrechtsvereinigung IHD und übernimmt den Vorsitz der Sektion Van. Regelmässig wird er festgenommen und bedroht. Eines Tages stösst ihn ein Unbekannter aus dem dritten Stock in einen leeren Liftschacht. Schwer verletzt verlässt er daraufhin das Land und kommt 1994 als Flüchtling nach Genf.

 

Zwar kommt er in der Schweiz in den Genuss einer Behandlung für seine physischen und psychischen Leiden, doch er verspürt das Bedürfnis, nach Hause zurückzukehren. Mit der Idee, ein Zentrum zur Hilfe für intern Vertriebene zu gründen, gelangt er unter anderem an ACAT-Schweiz, von der er seit 1990 einige Mitglieder kennt.

 

Unterstützung für Kinder und Familien

 

SOHRAM, eine Abkürzung für „Zentrum für Sozialhilfe, Rehabilitation und Eingliederung“ für Opfer von Folter und Gewalt, wird im Jahr 2000 gegründet. Das Zentrum befindet sich im südostanatolischen Diyarbakir, einer mehrheitlich kurdischen Stadt mit einer grossen Zahl Vertriebener infolge des Konflikts zwischen Armee und PKK.

 

„Zu Beginn unterstützte SOHRAM von Gewalt (Zwangsmigration, Krieg und Folter) traumatisierte Kinder mittels Bildung“, erklärt der Gründer der Organisation. So erteilt das Zentrum Nachhilfeunterricht für traumatisierte Kinder, von denen manche dem normalen Schulprogramm nicht zu folgen vermögen. „Um diese Kinder zu fördern, suchen wir freiwillige Lehrkräfte, vielfach Studierende der Universität, um jeweils am Wochenende Nachhilfestunden zu erteilen. Wir bieten auch jedem Kind eine kostenlose Mahlzeit an“, erläutert Yavuz Binbay. Heute sind manche Freiwillige von SOHRAM ehemalige Kinder des Zentrums, die inzwischen selber an der Uni studieren.

 

Das Zentrum bietet den Kindern auch Freizeitaktivitäten und Kulturelles an: ein mehrsprachiger Chor, ein Orchester, ein Theater, welches die lokale kulturelle Vielfalt spiegelt. All dies mit dem Ziel, das Zusammenleben zu lernen. Hierfür organisiert das Zentrum auch Seminare über andere Religionen und Kulturbesuche für Erwachsene, und zur Förderung der gegenseitigen Toleranz können die Mitglieder an Gottesdiensten anderer Religionen teilnehmen (unter anderem in der syrisch-orthodoxen Kirche von Diyarbakir). „Wir haben nicht vergessen, was 1915 geschehen ist [der Völkermord] und wollen unseren syrischen und armenischen Brüdern und Schwestern Schutz geben“, begründet Yavuz Binbay.

 

SOHRAM besitzt auch einen Laden, inspiriert von CARITAS. Spenden aus der Bevölkerung (zum Beispiel Kleider) werden je nach Bedürfnis an die Familien der Kinder verteilt – 2010 waren es 32 000 Stück. Mitglieder von SOHRAM kaufen und verteilen ebenfalls Schulmaterial (Bleistifte, Hefte, Schuluniformen, Schuhe). Jedes Jahr kommen zwei PsychologiepraktikantInnen ins Zentrum, um zu sondieren, welche Kinder eine psychologische Begleitung nötig haben. Diese werden anschliessend einem der drei Psychologen zugewiesen, welche für das Zentrum arbeiten.

 

Begleitung für Folteropfer

 

Mit der Unterstützung von ACAT-Schweiz bietet SOHRAM nämlich seit 2002 einen psychotherapeutischen Dienst und eine medizinische Behandlung für Opfer von Folter und Gewalt an. Laut Yavuz Binbay „ist SOHRAM die erste und einzige Organisation in unserer Region, welche psychotherapeutische Behandlung anbietet. Anfangs sagten die Leute, das sei für die Verrückten. Jetzt kommen die Folteropfer dank Mund-zu-Mund-Propaganda zu uns.“

 

Die Behandlung verläuft in mehreren Schritten. Erst suchen die Patienten einen Psychologen des Zentrums auf, der sie im Fall körperlicher Beschwerden mit Hilfe einer Sozialarbeiterin an einen geeigneten Arzt (Urologe, Gynäkologe, Zahnarzt, Psychiater, …) überweist. Dann erarbeitet der Psychologe ein Programm von Einzelgesprächen über mindestens sechs Monate. Gleichzeitig hilft die Sozialarbeiterin den Patienten bei der Wiedereingliederung durch die Suche einer Arbeit. „Das Folteropfer fühlt sich abgelehnt, isoliert. Es fehlt ihm an Selbstvertrauen und Anerkennung. Man kann jemanden nicht nur mit Worten heilen. Ich kenne diese Bedürfnisse, denn ich war selbst arbeitslos, als ich aus dem Gefängnis kam“, argumentiert Yavuz Binbay.

 

In den letzten vier Jahren konnte dank der gesammelten Erfahrungen und der besseren Zusammenarbeit mit der Bevölkerung bei 70% der Patienten eine Verbesserung festgestellt werden. Seit 2002 hat SOHRAM ungefähr 2 000 Erwachsenen, mehrheitlich Frauen, psychotherapeutische Behandlung angeboten. Die Frauen sind laut Yavuz Binbay gleichzeitig Opfer von staatlicher und von häuslicher Gewalt: „Sexuelle Belästigung, Inzest und die so genannten Ehrenmorde sind in der Gegend von Diyarbakir häufiger.“ Diese Gewalt ist eine Folge des anhaltenden Konflikts in der Region. Zudem werden die Söhne dazu erzogen, Kämpfer zu werden und die Familie zu „beschützen“, was eine harte und gewalttätige Mentalität erklärt.

 

Diesen der Lokalkultur eigenen Gründen muss die Therapie Rechnung tragen: „Wir haben uns nicht für die Gruppentherapie entschieden, denn in unserer Gesellschaft legt man seine Schwächen nicht bloss. Vor seinen Kameraden spricht ein Politaktivist nicht davon“, sagt Yavuz Binbay. Zudem sehen die Patienten sich nicht als Opfer: „Unsere Folteropfer sind Politaktivisten und betrachten sich als Helden.“ Überdies könnten Tabuthemen wie die Sexualität in der Gruppe nicht angesprochen werden.

 

Eine weiterhin angespannte Lage

 

Heute ist die Situation in Diyarbakir weiterhin angespannt. Die PKK hat den bewaffneten Kampf wieder aufgenommen. Zudem hat sie jüngst Kinder in einer Art Intifada gegen die Sicherheitskräfte eingesetzt. Etwa hundert Kinder sind verhaftet, gefoltert und unter den Antiterrorgesetzen abgeurteilt worden. Heute sind zwar die meisten in Freiheit, doch die Prozesse gegen sie werden weitergeführt (siehe Petition von ACAT-Schweiz zum Menschenrechtstag 2010).

 

Bei SOHRAM ist mehrmals eingebrochen worden, wobei eine Computerfestplatte sowie Dossiers verschwunden sind. Manche Patienten sind verhaftet und verhört worden.

 

Kürzlich hat Yavuz Binbay eine Strafanzeige gegen damalige Verantwortliche des Staatsstreichs von 1980 eingereicht, um „ein Urteil gegen diese der Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldigen Kriminellen zu erlagen und unserer Gesellschaft ein Beispiel zu geben.“ Eine Art der Suche nach einer gewissen Anerkennung? „Ich lebe jede Sekunde damit [mit der erlittenen Folter]. Wenn meine Anzeige durchkommt, erhalte ich die Plattform, die man mir dazumal verweigert hat“, erklärt Yavuz Binbay. Er strebt nicht nach Rache, sondern danach, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen: „Wenn ich etwas für ein Opfer tue, fühle ich mich gut, vergesse meine Probleme. Die negativen Erinnerungen sind gespeichert, es ist unmöglich, sie zu vergessen. Aber man kann versuchen, zusammenzuleben.“

 

(Quelle: Interview mit Yavuz Binbay, September 2011)