Bilder: ACAT-Schweiz

Interview

 

«Ich habe schon so viele Drohungen erhalten, dass ich dagegen immun bin.»

 

Yavuz Binbay hat gelernt, mit den Folgen der Folter zu leben. Der Gründer und Leiter von SOHRAM spricht von der Kraft der Psychotherapie – für die Opfer und für die Gesellschaft.

 
 
 

Yavuz Binbay ist 14 Jahre alt, als ihn zum ersten Mal Polizisten abholen. Sie foltern ihn während einer Woche und brechen ihm die Nase. Der Jugendliche muss mehrere Monate im Gefängnis bleiben. Es ist 1971, nach dem Militärputsch; Yavuz Binbay wird der «Unterstützung einer arabisch-kurdischen Vereinigung» angeklagt. Er gehört einer Familie an, die sich seit Jahrzehnten für religiöse und ethnische Minderheiten in der kurdischen Region einsetzt.
Nach dem Militärputsch von 1980 wird Yavuz Binbay erneut festgenommen und in einem Militärgefängnis inhaftiert. «Es gab ständig neue Foltermethoden», sagt er. Angeklagt als «arabisch-kurdischer Separatist und Kommunist» kommt er vor ein Militärgericht und wird schliesslich nach sechseinhalb Jahren Gefängnis freigelassen.
1986 gründet er mit türkischen und kurdischen Freunden den Türkischen Menschenrechtsverein IHD und wird Vorsitzender der Sektion Van, in Ostanatolien. Er wird immer wieder verhaftet und bedroht. Während einer Kundgebung 1992 greifen Polizisten ihn an und schlagen ihn bis zur Bewusstlosigkeit. Die Polizisten glauben, er sei tot, doch ein befreundeter Arzt stellt fest, dass er noch am Leben ist – mit Knochenbrüchen am Handgelenk, zehn Rippen, der Hüfte und den Füssen und sogar einem Schädelbruch.
Doch es wird noch schlimmer. Zwei Jahre nach diesem Überfall werfen Unbekannte ihn vom dritten Stock eines Gebäudes in den leeren Aufzugschacht. Yavuz Binbay überlebt erneut. Dieses Mal bietet ihm die Schweizer Botschaft Asyl an – dank Briefen von ACAT, Amnesty International und anderen Organisationen.
Doch die Vergangenheit bleibt in seinem Geist präsent. Nachdem er in der Schweiz Fuss gefasst hat, beschliesst er, sich für Folteropfer in seinem Heimatland zu engagieren. Im Jahr 2000 gründet er den Verein SOHRAM in Diyarbakir.

 
 

 
 
 

Yavuz Binbay, kann man erlittene Folter je vergessen?
Nein. Man kann nie auslöschen, was geschehen ist. Es ist ein grosser Irrtum, das Grauen hinter sich lassen und zur Tagesordnung übergehen zu wollen. Oft nehmen die Leute für ihre körperlichen Schmerzen Behandlung in Anspruch und versuchen, die psychischen Spuren zu vergessen. Dieser Ansatz verstärkt Wut und Stress, was die Rückkehr in ein normales Leben enorm erschwert. Um die körperlichen Schmerzen unter Kontrolle zu bringen, muss man erst mit einer vernünftigen Lösung, die das Hirn akzeptiert, den Geist beruhigen. Sonst fällt man in ein Loch und bleibt für den Rest des Lebens darin.

Sie haben selber Folter erlebt. Wie leben Sie mit den Spuren dieser schrecklichen Erlebnisse?
Ich habe Elektroschocks, Aufhängen und Schläge mit Gegenständen aus Beton erlitten. Heute leide ich unter Muskel- und Gelenkschmerzen. Die Verkalkung von Gelenken ist ein typisches Phänomen bei Gefolterten. Indem ich Stress und Müdigkeit reduziere, kann ich die Schmerzen stillen und unter Kontrolle halten. Die psychischen Spuren hingegen sind sehr viel hartnäckiger. Allein schon der Anblick von Polizisten oder Soldaten oder ein Sirenengeheul stressen mich und lassen die Schmerzen wiederaufkommen.

«Ich versuche, diesen Irrtum in der Menschheit, wie ich Folter bezeichne, zu korrigieren.»

 

Wie kontrollieren Sie ihre Wut gegen die Leute, die Ihnen diesen Schmerz angetan haben?
Ich habe die Hoffnung, dass es künftig einmal keine Folterer mehr geben wird. Ich versuche, diesen Irrtum in der Menschheit, wie ich Folter bezeichne, zu korrigieren. Es gibt schon Fortschritte im Vergleich zum Mittelalter. Aber die Folter existiert noch. Früher existierte sie in aller Freiheit, heute wird sie im Geheimen angewendet. Ich kann diese Hoffnung mit den Leuten teilen, denen ich helfe. Das mindert auch deren Leiden.

Sie sind praktisch täglich mit schrecklichen Geschichten konfrontiert. Wühlt das nicht zu stark Ihre eigenen Erinnerungen auf?
Schon im Militärgefängnis stellte ich fest, dass ich mein eigenes Leiden ein wenig lindern konnte, indem ich meinen Freunden half, die dasselbe erlitten wie ich. Die Hilfe an Gewaltopfer ist ein Lebensprinzip geworden, das meiner Seele auch heute noch sehr gut tut


SOHRAM bietet Psychotherapie für Gewaltopfer an. Konnten Sie selber nach der erlittenen Folter eine Psychotherapie in Anspruch nehmen?
Leider gab es diese Möglichkeit damals noch nicht. In unserer Kultur war der Psychiater ein Arzt für die Verrückten. Und der Psychologe war nicht bekannt. Der Sufismus, den ich seit dem Alter von sechs Jahren studiere und praktiziere, hat mir geholfen, mich selber zu therapieren. Dank meinem Glauben, meiner Liebe zu Gott und meinem Willen habe ich überlebt.

Hat sich die Wahrnehmung der Psychotherapie durch Ihre Arbeit verändert?
Ja. SOHRAM ist die erste und einzige Organisation in der Region, die psychotherapeutische Unterstützung anbietet. Wir haben mit einem einzigen Psychologen begonnen. Es war schwierig, den Leuten zu erklären, wer er ist. Die Opfer konnten ihre psychischen Beschwerden nicht ausdrücken, sie sagten: Ich habe Magenschmerzen, oder Nackenschmerzen. Dank unserer Informationsarbeit verstehen die Leute zunehmend, warum die Opfer eine Psychotherapie nötig haben. Ich habe immer dieses Argument gebraucht: «Die Psychotherapie ist eine Behandlung für intelligente Leute, weil man zusammen sprechen, austauschen und analysieren muss.» In unserer Region ist das ein Argument, das zieht.

Eine Psychotherapie zu akzeptieren ist das eine, aber inwieweit öffnen sich die Opfer während der Behandlung?
Unsere Behandlung dauert mindestens sechs Monate. Zu Beginn sprechen die Opfer normalerweise überhaupt nicht über ihr Leiden. Sie betrachten sich als Helden und Heldinnen – was nicht ihrer Wirklichkeit entspricht, da sie wegen ihres Gefängnisaufenthalts von der Gesellschaft oft stigmatisiert und abgelehnt werden. Erst nach einigen Monaten Behandlung kann man versuchen, das Fenster des Leidens aufzustossen. Dies ist der Zeitpunkt, da die Therapie beginnen kann.

Gibt es Leute, die eine Psychotherapie kategorisch ablehnen?
Ja, gewisse militante Gruppen zum Beispiel, die selber foltern, wollen nicht, dass ihre Anhänger sich in Behandlung begeben, denn sie betrachten dies als eine Schwäche. Die Psychotherapie befreit die Seele, was der Philosophie dieser Gruppen zuwiderläuft, die Fügsamkeit und Gehorsam fordern. In diesen Kreisen werden Folteropfer oft selber zu Folterern.


Wie sieht die gegenwärtige Situation in der Türkei für SOHRAM aus?
Zwischen 2002 und 2013, als die Türkei für die Integration in die Europäische Union Reformen einleitete, schrieben wir in unseren Berichten: körperliche Folter wird verschwinden. Leider hat der türkische Staat die Repression gegen die PKK wieder verstärkt. Das hat bewaffnete Kämpfe, Verhaftungen, Drohungen und Folter zur Folge. Unbekannte raunen, SOHRAM unterstütze die Untreuen sowie die Terroristen und deren Familien. In unser Zentrum ist schon vier Mal eingebrochen worden. Die Einbrecher interessierten sich für unsere Agenden und Daten-CDs. Unsere Website wurde sieben Mal gehackt. Wir erhalten Drohungen.

Macht Ihnen das Angst?
Ich habe schon so viele Drohungen erhalten, dass ich dagegen immun bin. Die Drohungen und Gerüchte werden weitergehen. Die Position von SOHRAM ist klar: Wir weichen nicht von unserer Linie ab. Wir bleiben eine vom Staat und allen politischen Einflüssen unabhängige Organisation. Aber wir provozieren nicht, wir sind vorsichtig. Die Kontrollbesuche der Polizei sind regelmässig geworden. Deshalb bewahren wir vertrauliche Daten nicht in unserem Zentrum auf.

Zum Schluss ein Blick in die Zukunft: Welche Visionen haben Sie für SOHRAM?
Was mich zurzeit am meisten beschäftigt, ist die Fortführung von SOHRAM nach meinem Tod. Abgesehen davon habe ich Träume für jedes unserer Programme. Ein Spital für die Opfer wäre ein grosses Geschenk für die ganze Gesellschaft. Und eine Schule für die Kinder der Opfer! Und warum nicht ein multiethnischer Radio- oder Fernsehsender, und ein Tempel für interreligiöse Gebete – Träumen ist die Quelle des Lebens und der Hoffnung.

Interview: Katleen De Beukeleer, ACAT-Schweiz