Herbst 2023 − Interview mit Emine Ridvan, Psychologin bei SOHRAM

 

«In den Sprechstunden begegnen wir den unbeschreiblichen Gräueln der Folterhölle»

 

Die 26-jährige Emine Ridvan hat in ihrer jungen Karriere als Psychologin bereits die tiefsten Seelennarben gesehen. Sie unterstützt von Folter und Gewalt betroffene Menschen in Diyarbakir (Türkei) mit Psychotherapien. In diesem Interview erzählt Emine Ridvan, was sie täglich erlebt und wie ihre Patienten ihr Leben nach der Folter – und nach dem Erdbeben vom 6. Februar 2023, das die psychischen Störungen verschlimmert hat – wieder aufbauen können.

 

 
 
 

Bild: SOHRAM

 

Emine Ridvan arbeitet für die Organisation SOHRAM, Projektpartnerin von ACAT-Schweiz seit 2002. SOHRAM hilft Opfern von Folter und anderer Gewalt in Diyarbakir. 

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ACAT-Schweiz: Das Erdbeben vom vergangenen Februar hat vielen Menschen in Diyarbakir die Existenzgrundlage entzogen. Unter welchen psychologischen Folgen leiden die Opfer?

 

Emine Ridvan: Angststörungen und Panikattacken sind sehr häufig: intensive Gefühle von Schock, Panik, Angst, Traurigkeit und Wut. Viele Opfer haben Schwierigkeiten, sich an das Erdbeben zu erinnern und sind besorgt, dass es sich wiederholen könnte. Manche Menschen reagieren empfindlich auf jeden Reiz, andere haben Angst, allein zu sein, oder geraten in einen Zustand der Hypervigilanz, einer erhöhten Wachsamkeit. Die traumatischen Auswirkungen sind von Person zu Person unterschiedlich und können sogar bei Menschen auftreten, die das Erdbeben in den Medien verfolgt haben, ohne die Katastrophe direkt erlebt zu haben.

 

Wie hat sich das Erdbeben auf Menschen ausgewirkt, die bereits durch Folter und Krieg gezeichnet waren?

 

Bei ihnen zeigen sich diese Auswirkungen in Form von Flashbacks: Die erlittene Gewalt lebt wieder auf. Nach dem Erdbeben haben wir unsere ehemaligen Patienten kontaktiert und Präventionsberatungen vereinbart, um diesen Effekt zu verringern.

 

Wie kommt man nach einem solchen traumatischen Ereignis zurück zu einer gewissen Normalität im Alltag?

 

Der Schmerz muss innerhalb von 4 bis 6 Wochen nach dem Trauma mithilfe psychologischer Unterstützung angegangen werden. Die belastete Psyche braucht Begleitung auf ihrem Weg zur Beruhigung und Erholung. Andernfalls kann das Sozialleben stark beeinträchtigt werden. Es kann jedoch Wochen, Monate oder sogar Jahre dauern, bis der Stress und die erlittenen Traumata überwunden sind.

 
 
 

 

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Seit dem Erdbeben haben viele Menschen kein Dach mehr über dem Kopf. Wie wichtig finden sie eine psychotherapeutische Behandlung?

 

Es stimmt, dass diese Opfer zunächst materielle Hilfe benötigen, bevor sie sich ihrer psychischen Notlage und möglicher Lösungen bewusst werden können. Eine Psychotherapie ist nicht wirksam, wenn man nicht einmal einen Ort hat zum Leben. Aus diesem Grund ist unsere Arbeitsweise ganzheitlich: Unsere Patienten erhalten auch finanzielle und materielle Unterstützung. Sie nehmen an einem Programm zur Wiedereingliederung in das normale Leben teil und sie erhalten Sozialhilfe. Sie können Türkischkurse besuchen und in unserem Second-Hand-Laden Waren des täglichen Bedarfs kaufen, werden von unserer Sozialarbeiterin bei der Arbeitssuche begleitet, und ihre Kinder können an unserem Bildungsprogramm teilnehmen. Darüber hinaus bieten wir eine Rechtsberatung an. All diese Elemente ergänzen und beeinflussen sich gegenseitig.

 

 

«Es stimmt, dass diese Opfer zunächst materielle Hilfe benötigen, bevor sie sich ihrer psychischen Notlage und möglicher Lösungen bewusst werden können. Eine Psychotherapie ist nicht wirksam, wenn man nicht einmal einen Ort hat zum Leben.»

 

 

Können Sie uns Ihre Arbeitsweise bei der Arbeit mit Folteropfern beschreiben?

 

Unsere Patienten sind sehr fragil. Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass es für sie, vor allem aus psychologischen und kulturellen Gründen, schwierig ist, an Gruppentherapien teilzunehmen. SOHRAM bietet deshalb Einzelpsychotherapien an, deren Ergebnisse signifikant besser sind als bei einer Gruppenpsychotherapie.

Beim ersten Gespräch mit einem Opfer informieren wir uns über seine sozialen Umstände, seine Erfahrungen im Gefängnis und die erlittenen Folterungen. Das vorläufige Dossier wird vom medizinischen und psychotherapeutischen Team besprochen. Anschliessend entscheidet ein Allgemeinmediziner entweder über eine psychotherapeutische Betreuung durch uns Psychologen, eine medikamentöse Behandlung durch Psychiater, und/oder eine psychosoziale Rehabilitation. Er bestimmt auch, ob weitere Konsultationen und Untersuchungen nötig sind, in der Regel in den Bereichen Urologie, Neurologie, HNO, Gynäkologie und Augenheilkunde.

In den psychotherapeutischen Sprechstunden begrüssen wir die Opfer, hören ihnen zu und begegnen den unbeschreiblichen Gräueln der Folterhölle, den Nächten voller Albträume und den unsäglichen Wunden der Vergewaltigungen. Jedes Opfer, das uns aufsucht, erzählt uns von schlaflosen Nächten, tagsüber auftretenden Flashbacks, Panikattacken, dem Ekel vor dem Leben nach traumatischen Erlebnissen, schweren Depressionen und Angstzuständen bis hin zur Selbstentfremdung.

 

Sie haben die kulturellen Hintergründe Ihrer Patienten erwähnt. In Diyarbakir leben Zehntausende von Geflüchteten aus verschiedenen Krisengebieten. Spielt ihr kultureller Hintergrund auch in weiteren Hinsichten eine Rolle bei der Traumabewältigung?

 

Auf jeden Fall. Die kulturelle und ethnische Vielfalt hat einen grossen Einfluss auf die Verschlimmerung von Traumata. Leider hat die massive Einwanderung in unserer Region ein Klima des ethnischen und religiösen Hasses begünstigt. Rassistische Feindseligkeiten richten sich insbesondere gegen Menschen arabischer Herkunft, was zu einem Gefühl der Ausgrenzung führt.

 

Wie zeigen sich die positiven Auswirkungen der Therapie bei Ihren Patienten?

 

Wir bewerten die Entwicklungen der Therapie nach verschiedenen Punkten. Im Allgemeinen sind Patienten nach einer erfolgreichen Therapie besser in der Lage, mit allen möglichen Schwierigkeiten umzugehen. Sie ändern ihre Verhaltensweisen und stellen sich negativen Emotionen wie Angst, Wut oder Trauer. Sie setzen sich Ziele für die Zukunft und verbessern ihre Kommunikation und ihre sozialen Beziehungen. Sie erkennen ihre negativen Gedanken und die Auswirkungen ihrer psychischen Probleme.

Dank unserer Therapie können sich unsere Patienten als freie und selbstbestimmte Individuen wieder in die Gesellschaft integrieren. Das schönste Ergebnis ist, dass viele unserer Patienten nach der Therapie als Freiwillige bei SOHRAM arbeiten möchten.

 

Wie viele Sitzungen sind nötig, damit ein Trauma behandelt werden kann?

 

Das ist sehr unterschiedlich. Die persönliche Fragilität spielt eine wichtige Rolle, ebenso wie das Vertrauensverhältnis, das wir zu den Patienten aufbauen können. Bei Folter- und Kriegsopfern planen wir eine Behandlungsdauer von mindestens sechs Monaten, das sind 24 Sitzungen. Wenn es Fortschritte gibt und der Patient dies wünscht, bieten wir weitere Sitzungen an. Im Jahr 2022 haben wir bei 70 von insgesamt 102 Patienten positive Ergebnisse erzielt. 

 

Hat sich Ihre Arbeitsweise seit dem Erdbeben verändert?

 

Die Nachfrage nach psychologischer Hilfe ist gestiegen, aber unsere Arbeitsmethode ist gleich geblieben. Die einzige Neuerung ist, dass SOHRAM Maltherapie-Workshops für Kinder anbietet, die vom Erdbeben betroffen sind. Eine Psychologin und unsere Sozialarbeiterin sind dort immer anwesend.

 

Was sind Ihre grössten Sorgen in Ihrer Funktion als Psychologin bei SOHRAM?

 

Es ist oft schwierig, den Patienten die Notwendigkeit der Behandlung bewusst zu machen und die Kontinuität der Behandlung zu gewährleisten. Manchmal lassen sich Patienten von den ersten positiven Entwicklungen in die Irre führen. Es kommt auch vor, dass bestimmte Prioritäten im Leben eine Fortsetzung der Therapie verhindern. Die Patienten brechen die Therapie ab, bevor sich nachhaltige Veränderungen verfestigt haben. Dies führt zum Verlust positiver Ergebnisse und zur Verlängerung des Behandlungsprozesses – oder zu dessen endgültigem Abbruch.

 

Wo sehen Sie Fortschritte?

 

Die Ereignisse in unserer Region und die Situation in unserem Land lassen keinen fruchtbaren Boden für Fortschritte erkennen. Der einzige positive Aspekt ist, dass SOHRAM in der Lage ist, seine Dienste für die Opfer kontinuierlich fortzusetzen.

 
 

Dank Ihren Beiträgen für den Fonds «SOHRAM» kann ACAT-Schweiz seit 2002 diese Traumatherapie von SOHRAM gezielt unterstützen. Wir freuen uns, wenn Sie den Menschen in Diyarbakir mit Ihrer Spende helfen, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten und gestärkt die Herausforderungen des Alltags anzugehen.