Spenden für Erdbebenopfer

 

Die Not von Menschen in der Türkei, die bereits durch Folter oder weitere Gewalt traumatisiert sind, hat sich verschärft.

 

Wie alle zwei Jahre wird ACAT-Schweiz im September 2023 einen Spendenaufruf für SOHRAM lancieren.

Wenn Sie bereits jetzt spenden möchten, können Sie dies auf folgendes Konto tun:


ACAT-Schweiz, 3011 Bern
mit dem Vermerk «SOHRAM / Erdbeben»
IBAN CH16 0900 0000 1203 9693 7

oder mit diesem Einzahlungsschein

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29.03.2023

Interview

 

«Das Erdbeben hat einen Flashback der Angst ausgelöst»

 

 

Das Erdbeben vom 6. Februar in der Türkei und in Syrien hat die Region Diyarbakir, in der unser Projektpartner SOHRAM ansässig ist, schwer getroffen. SOHRAM-Gründer und Direktor Yavuz Binbay berichtet über die Verwüstung und erzählt, welche Auswirkungen die Katastrophe auf Menschen hat, die bereits durch Folter traumatisiert sind.

 

Interview: Katleen De Beukeleer

 

 
 
 

 
 

Yavuz Binbay gründete SOHRAM im Jahr 2000 und leitet das Zentrum seither. Er weiss, wie gross die Not der Geflüchteten in der Region ist. SOHRAM war gleich nach dem Erdbeben als eine der ersten und einzigen Stellen für sie da.

 

Bild: SOHRAM

 
 
 

ACAT-Schweiz: Wir sind erleichtert, dass es Ihnen gut geht! Wie haben Sie das Erdbeben erlebt?

Yavuz Binbay: Es war Nacht, ich war noch wach, als ich ein seltsames Geräusch hörte. Als ausgebildeter Geologe wusste ich sofort, dass sich ein Erdbeben ankündigte. Das Haus begann sich zu bewegen. Zum Glück wohne ich in einem kleinen, stabilen Gebäude. Das Beben dauerte fast zwei Minuten: eine Ewigkeit. In Gedanken wiederholte ich: «Das Beben sollte aufhören! Warum hört es nicht auf?». Als es endlich vorbei war, fing ich an, meiner Familie und dem SOHRAM-Team zu schreiben. Kaum hatte ich die Nachrichten beendet, bebte die Erde erneut, diesmal eineinhalb Minuten lang. Eine sehr traumatische Erfahrung.

 

Wie war die Bilanz in Ihrem direkten Umfeld?

Zwei meiner Cousins sowie deren Familien starben. In unserer Nachbarschaft wurden drei Gebäude zerstört und 167 Menschen starben.

 

Welche waren die ersten Massnahmen, die Sie ergriffen haben?

Um acht Uhr morgens versammelte sich unser Team. Wir bildeten drei Gruppen, um den Opfern zu helfen. Eine grosse Anzahl junger Freiwilliger unterstützte uns, was mich sehr berührte. Das Epizentrum des Erdbebens, das eine Stärke von 7,8 auf der Richterskala erreichte, lag nur 300 Kilometer von Diyarbakir entfernt. In der Stadt starben ca. 2500 Menschen, aber uns ist nicht bekannt, ob diese Zahl auch Geflüchtete einschliesst. Hunderte von Gebäuden wurden zerstört, vor allem in den Armenvierteln, wo sich die instabilsten Häuser befinden. Genau dort leben zahlreiche Geflüchtete, unter ihnen viele Klienten von SOHRAM. Die meisten dieser Menschen haben auch ihre Arbeit als Tagelöhner verloren. Wir begannen unsere Hilfsaktion mit der Verteilung von allem, was wir hatten und was wir beschaffen konnten – zunächst Babynahrung, Kleidung und Decken. Ich habe mir eine grosse Summe Geld von meiner Familie geliehen, um diese Hilfe zu organisieren.

 

Die Logistik ist unter solchen Bedingungen sicherlich kompliziert ...

Das stimmt, nur dreissig Prozent der Geschäfte waren geöffnet und diese verlangten Wucherpreise für ihre Waren. Ausserdem war der Verkehr überall blockiert. Die Hälfte der Einwohner von Diyarbakir versuchte aus der Stadt zu fliehen, aus Angst vor weiteren Erdbeben und weil ein grosser Teil der Stadt unbewohnbar geworden war.

 

Was ist mit der staatlichen Hilfe?

Der Staat stand unter Schock und brauchte mehrere Tage, um eine Hilfekette aufzubauen. Für Geflüchtete jedoch ist keine staatliche Unterstützung vorgesehen, da sie keinen legalen Status haben. Als ich den Vize-Stadtpräsidenten bat, nach einer Unterkunft für sie zu suchen, sagte er mir, das sei illegal und daher nicht möglich. Der Patriarchalvikar der chaldäischen Kirche hingegen gab mir eine positive Antwort. Wir arbeiten schon lange zusammen und er erlaubte uns, die chaldäische Kirche Mar Petrun in Diyarbakir für die Unterbringung von Geflüchteten zu nutzen. Wir kauften Betten und Heizgeräte für sie. Ausserdem fanden wir Plätze in Tempeln der Aleviten und bei Freiwilligen, die mehr als 800 Menschen bei sich aufgenommen haben. SOHRAM koordiniert all diese Unterkünfte.

 

Kommen wir nun zu den psychischen Auswirkungen dieser Katastrophe. Wie erlebt ein Folteropfer eine solche Tragödie?

Das Erdbeben hat einen Flashback der erlebten Ängste ausgelöst. Der Vertrauensverlust in die Zukunft verstärkt sich. Oft haben Folteropfer Angst vor ihrer sozialen Umgebung; das Erdbeben hat denselben Effekt in Bezug auf die physische Umgebung. Jedes Gebäude wird bedrohlich und gefährlich.

 

Die Psychotherapie ist ein Pfeiler des Unterstützungsangebots von SOHRAM für Folter- und Kriegsopfer. Gibt es Raum für Psychotherapie, wenn die Menschen nicht einmal ein Dach über dem Kopf haben?

Ja. Wir wissen sehr gut, wie wichtig es ist, nach dem traumatischen Ereignis so schnell wie möglich psychologische Betreuung anzubieten. Wir haben alle unsere ehemaligen Klienten angerufen und ihnen unsere Dienste angeboten. Aber auch alle anderen Erdbebenopfer sind herzlich willkommen. Wir sind nach wie vor das einzige Zentrum in der Region, das kostenlose Psychotherapien anbietet. Auch ich persönlich stehe immer zur Verfügung. Manchmal rufen mich die Leute mitten in der Nacht an. Sie wissen, dass auch ich Folter erlebt habe. Es tut ihnen gut, ein verständnisvolles und offenes Ohr zu finden.

 

Sie haben uns berichtet, dass der Rassismus gegenüber Menschen arabischer und armenischer Herkunft im Jahr 2022 enorm zugenommen hat. Hat das Erdbeben zu einer erneuten Solidarität geführt?

Ganz im Gegenteil. Die Kemalisten haben ihre rassistischen Provokationen intensiviert. Viele Stimmen behaupten, die Syrer stählen ihnen die Hilfe, man solle sie nach Hause schicken, um den «Einheimischen» Platz zu machen. Und für die Region Aleppo, die noch stärker als Diyarbakir betroffen ist, gibt es keinerlei Solidarität.

 

Das Erdbeben hat die Herausforderungen für SOHRAM einmal mehr vergrössert. Wie finanzieren Sie Ihre Arbeit?

Als ich mich bei meiner Familie verschuldete, um die Nothilfe zu organisieren, habe ich mir grosse Sorgen gemacht. Doch die Schweizer Stiftung ProVictimis hat einen erheblichen Teil dieser Summe übernommen. Im Moment ist unser Finanzbedarf immer noch mindestens fünfzig Prozent höher als in normalen Zeiten. Viele Organisationen und private Freunde helfen uns, und wir vermeiden jegliche Bürokratie, aber die finanzielle Lage bleibt prekär. Und die Gefahr ist noch nicht gewichen: Es wird für dieses oder die nächsten Jahre mit weiteren Erdbeben gerechnet.

 

Wie bewahren Sie die Hoffnung angesichts dieser Katastrophe, die das Leid vervielfacht?

Wenn ich anderen helfe, vergesse ich meine eigenen Sorgen. Das gibt mir Kraft. Ausserdem sind meine Freunde in der Türkei, der Schweiz und anderswo eine grosse Bereicherung. Ich bin allen Menschen, die uns unterstützen, sehr dankbar. Ich trage immer das Bild in meinem Portemonnaie, das ich in den Neunzigerjahren, als ich im Gefängnis war und gefoltert wurde, von einem ACAT-Mitglied erhalten habe. All das habe ich Gott zu verdanken.

 

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