Bild: Adrian Hauser, Farbgarage.ch
Mai 2023 − Zeugenaussage
«Die Han-Chinesen haben sich bei meinen Eltern zu Hause eingenistet»
Die gebürtige Uigurin Gulnar Mamtimin lebt seit 23 Jahren in der Schweiz. Ihre Heimat ist die chinesische Provinz Ostturkestan. Sie erzählt, welche unvorstellbaren Menschenrechtsverletzungen China an den Mitgliedern ihrer Verwandtschaft verübt. Niemand wird verschont.
Gulnar Mamtimin
Ostturkestan
Die turksprachige, mehrheitlich muslimische Minderheit, die in der chinesischen Provinz Ostturkestan («Xinjiang» auf Chinesisch) lebt, ist seit Jahren schweren Repressionen ausgesetzt. Immer mehr Expert:innen bezeichnen dies als Völkermord. ACAT-Schweiz beleuchtete die Situation in Ostturkestan in ihrer Karfreitagskampagne 2021.
«Ich möchte Ihnen eine Geschichte über meine Familie erzählen. Was ich erzähle, mag für Sie unwirklich klingen. Aber alles, was ich sage, ist wahr.
Noch vor sechs Jahren erzählte ich anderen wie in einem Märchen ohne Happy End: Meine Grosseltern stammen aus einer sehr reichen Familie. Die Kommunistische Partei bestrafte meine Grosseltern (die Eltern meines Vaters) als Landbesitzer und schickte sie ins Exil. Durch zu harte Arbeit und schlechte Bedingungen sind sie früh gestorben.
Im Jahr 2001 kannte ich einen zwanzigjährigen Jungen, dem sechs Monate nach seiner illegalen Verhaftung die inneren Organe entnommen und dessen Körper der Familie zurückgegeben wurde. Unter massiver Polizeibegleitung wurde er sofort beerdigt.
Die Schwangerschaft der Nachbarin meiner Eltern, Reyhangul, wurde im neunten Monat gewaltsam abgebrochen. Ich kenne viele Frauen, die haben abtreiben lassen. Manche von ihnen wurden gezwungen, einen Arzt aufzusuchen. Gezwungen wurde man nicht etwa durch die Polizei oder durch die Behörden direkt, sondern durch die drohenden Strafen bei Fortführung der Schwangerschaft.
Ich habe 1998 eine zweimonatige Schwangerschaft im Bruderholzspital in Basel abbrechen lassen, als ich meinen Mann in Basel besuchte. Sonst wäre ich bei der Rückkehr nach Urumqi hart bestraft worden und man hätte mich trotzdem abtreiben lassen. Mein erster Sohn war noch keine drei Jahre alt. Dieses Alter hätte er erreicht haben müssen, damit ich die zweite Schwangerschaft hätte weiterführen dürfen. Bis heute bereue ich diese Entscheidung.
Die Schwester meiner Klassenkameradin, Mirwangul hiess sie, war im Gefängnis, weil sie anderen den Koran beigebracht hatte. Ich sah sie im April 2015, nach ihrer Entlassung. Sie sass zusammengekauert am Bettrand; ihre Körperhaltung sah aus wie der griechische Buchstabe Omega. Ich wollte sie nicht fotografieren. Ich hatte Angst, dass die Polizei mein Telefon kontrollieren und mir Ärger machen würde. Es war üblich, dass die Polizei jedes Telefon durchsuchte, wo immer sie es für richtig hielt. Mirwangul starb kurze Zeit später.
Meine Klassenkameradin, die Schwester von Mirwangul, habe ich bei meinem Besuch im Jahr 2016 nicht mehr gesehen, da sie für zehn Jahre eingesperrt worden war. Auch ihre Mutter starb im selben Jahr vor Schmerz.
Im Sommer 2015 wurden mein Schwager und dreissig weitere Personen zu einer Haftstrafe verurteilt, weil sie zusammen die monatliche uigurische Teeparty gefeiert und den Ramadan begangen hatten. Alle wurden zu vier bis siebzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Mein Schwager erhielt zehn Jahre.
Ich erinnere mich, dass ich im Juli 2017 meine Familie angerufen habe. Da war meine Mutter am Telefon: ‹Meine Liebe, uns geht es gut, die Polizei hat gesagt, dass wir uns eine Weile nicht melden sollen.› Sie legte auf. Unsere normale Kommunikation war von diesem Tag an zu Ende.
Ich habe meine Eltern verloren. Ich fühle mich wie jemand, der sein Kind verloren hat. Am 27. April 2018 rief ich ein letztes Mal nach Hause an. Mein Vater sagte mir, ich solle nie mehr nach Hause kommen und legte auf. Das war das letzte, was ich jemals von meinem Vater gehört habe.
«Wie mein Vater starb und wo er begraben wurde, weiss ich nicht.»
Mein Vater musste seine Familie verlassen, als er fünf Jahre alt war. Sein ganzes Leben lang hatte er Angst vor den Chinesen und vermied es, mit ihnen zu verkehren. ln seinen letzten Lebensjahren wurde er von seinen Kindern getrennt und gezwungen, mit Han-Chinesen unter einem Dach in Angst und strenger Kontrolle zu leben. Die Han-Chinesen haben sich als Verwandte ausgegeben und sich bei meinen Eltern zu Hause eingenistet. Er ist im Jahr 2018 in einer sehr einsamen Situation gestorben. Wie er starb und wo er begraben wurde, weiss ich nicht.
Über den Bruder und die Schwester meines Vaters und ihre Familien weiss ich nichts.
Mein Bruder wurde im August des Jahres 2017 in ein Lager gebracht. Der Grund für seine Internierung war die Reise meiner Eltern nach Istanbul im Jahr 2009. Da meine Eltern zu alt und schwach für die Lager waren, wurde mein Bruder an ihrer Stelle eingesperrt. Meiner Meinung nach war er zwei Jahre lang im Lager. Nach meinen Informationen ist er jetzt Lastwagenfahrer und ist schon ein Roboter aus Fleisch und Blut geworden.
Bild: Gulnar Mamtimin
Gulnar Mamtimin:
«Die vier Frauen auf diesem Bild sind meine Mutter und meine Tanten. Sie sind alle zwischen 64 und 75 Jahre alt und waren als Krankenschwestern tätig.
Die erste Frau von der linken Seite ist die Frau meines Onkels. Sie spricht Chinesisch als Muttersprache. Sie wurde Leiterin eines privaten Krankenhauses. Sie wurde im Jahr 2018 verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe von 25 Jahren verurteilt. Mit Hilfe ihrer Tochter und ihrer Schwester in der Türkei wurde sie vor drei Jahren aus dem Gefängnis entlassen. Aber sie ist zu Hause in Isolation.
Die zweite Frau von links ist meine Mutter. Rechts daneben steht ihre Schwester. Sie wurde zu siebzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Vor zwei oder drei Monaten habe ich gehört, dass sie aus dem Gefängnis entlassen wurde, um Krebs behandeln zu lassen.
Die Frau ganz rechts ist die Frau meines anderen Onkels. Sie ist seit November 2019 verschwunden. Ich weiss nicht, wo sie jetzt ist. Ihr Sohn, mein Cousin, ist ebenfalls verschwunden.»
Meine Mutter hatte insgesamt sieben Geschwister. Aus jeder Familie wurde mindestens eine Person inhaftiert, und mehrere von ihnen haben die sogenannte ‹Umerziehung› durchlaufen. Von unserem Verwandtschaftskreis weiss ich, dass um die dreissig Personen inhaftiert wurden. Das sind nur die, von denen wir wissen.
Es ist sieben Jahre her, als ich meine Mutter und meine Verwandten das letzte Mal gesehen habe. Zwei Jahre lang habe ich keine Informationen mehr über sie erhalten. Meine Mutter, die 75 Jahre alt ist, leidet an hohem Blutdruck und Diabetes. Sie wird immer älter und ich verbringe meine Tage mit Sehnsucht nach ihr und Sorge um sie. Mittlerweile konnte ich über indirekte Kanäle sehen, dass meine Mutter noch lebt. Aber ich weiss nicht, wie sie lebt, und reden konnte ich nie mehr mit ihr.
Ich weiss nicht, wie viele schmerzliche Geschichten ich Ihnen erzählen kann. Viele Jahre lang habe ich geschwiegen und mich nicht an der Politik beteiligt. Die Realität zwang mich, zu sprechen. Warum habe ich mich entschlossen, Ihnen meine Geschichte zu erzählen? Um Sie vor China zu warnen. Damit unsere Kinder in Zukunft nicht von China abhängig sind.»
→ Gulnar Mamtimin hat diesen Text vorgelesen an der Veranstaltung «Uigur*innen erzählen. Volkserzählungen und politischer Kontext in Ostturkestan». Der Anlass wurde von ACAT-Schweiz, der Gesellschaft für Bedrohte Völker, Justice for Uyghurs und Uyghur Academy, sowie von den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn gemeinsam organisiert. Er fand am 24. Mai 2023 in Bern statt.