17.01.2023  ---   ACAT international: Interview

 

«Ich dachte, ich würde für immer gehen»

 

Germain Rukuki weiss genau, was es bedeutet, für die Verteidigung von Menschenrechten sein Leben zu riskieren. Im Jahr 2017 war der ehemalige Verantwortliche für Finanzen und Administration von ACAT-Burundi zu 32 Jahren Haft verurteilt worden. Nach vier Jahren kam er frei und ging ins Exil nach Brüssel. Im Interview mit ACAT-Schweiz erzählt Rukuki, wie er diese Zeit des Schreckens erlebt hat – und warum er heute optimistisch und voller Energie ist.


Interview & Foto: Katleen De Beukeleer

 
 
 

 
 
 

ACAT-Schweiz: Germain Rukuki, mit 45 Jahren ist Ihr Leben mit einem Roman vergleichbar. Wie geht es Ihnen?


Germain Rukuki: Seit meine Frau und meine Kinder im Februar 2022 zu mir nach Belgien ziehen konnten, bin ich glücklich. Morgen werden wir in eine grössere Wohnung umziehen, ich freue mich darauf! Freunde von ACAT-Belgien und andere helfen uns sehr dabei, hier unseren Weg zu finden. Aber die ständigen Sorgen um meine Familie und meine Freunde, die in Burundi geblieben sind – und um das gesamte burundische Volk – lasten noch schwer auf mir. Die soziopolitische und wirtschaftliche Situation bleibt höchst besorgniserregend. Einige Menschen meiden mich. Ich nehme an, dass sie Angst haben, mit mir in Verbindung gebracht werden, weil ich weiterhin Berichte über Burundi verfasse.

Kehren wir zunächst in die Nacht des 13. Juli 2017 zurück. Sie und Ihre Familie werden von Dutzenden Mitgliedern der Sicherheitskräfte geweckt, die Ihr Haus in der Hauptstadt Bujumbura stürmen. Wie haben Sie diesen Moment erlebt?


Ich wusste, dass ich in Gefahr war. Ich war bereits anderen Verhaftungen, einem Attentat und sogar einer Entführung entkommen. Die Verhaftung war dann doch ein Schock. Ich war überzeugt, dass sie mich töten würden. Trotzdem blieb ich ruhig, um meiner Frau, meinen Kindern und den weiteren Menschen in meiner Obhut keine Angst einzuflössen. Mein zweiter Sohn weinte unaufhörlich. Begleitet von Polizisten kaufte ich ihm im Laden nebenan Süssigkeiten um ihn zu beruhigen, aber ohne Erfolg. Meine Frau war schwanger und sehr gestresst. Als ich ging, machte ich ihnen allen zum Abschied ein Kreuzzeichen. Ich dachte, ich würde für immer gehen.

Danach verbrachten Sie vier Jahre im Gefängnis. Eine schwierige Zeit …


Ich habe sehr gelitten. In Burundi werden die Rechte von Inhaftierten systematisch verletzt, und das gilt umso mehr für politische Gefangene. Aber das war alles viel weniger schlimm als das, was ich erwartet hatte, nämlich meinen Tod. Ich war am Leben! Meine Kinder und meine Frau waren in Sicherheit. Das gab mir Mut. Ich hatte immer die Hoffnung, eines Tages meine Familie wiederzusehen und meinen dritten Sohn kennenzulernen, der vier Monate nach meiner Verhaftung auf die Welt kam.

Was gab Ihnen diese Zuversicht? Sie waren am Leben, aber zu 32 Jahren Haft verurteilt – das härteste Urteil, das die burundische Justiz je gegen einen Menschenrechtsverteidiger verhängt hat.


Diese Strafe war ungerecht, die Anschuldigungen unbegründet und konstruiert. Ich hatte die Gewissheit, dass ich unschuldig war. Die Justiz hat nie Beweise gefunden. Im Zeugenstand sagte ich den Richtern, dass die Staatsanwaltschaft niemals Beweise gegen mich finden würde, selbst wenn sie hundert Jahre Zeit hätte. Aus diesem Grund war ich immer davon überzeugt, dass ich bald freigelassen werden würde. Ausserdem bin ich mir sicher, dass der Tag meines Todes von Gott bestimmt wird, und nicht von den burundischen Richtern oder Folterern. Dieser Glaube hat mir sehr geholfen.

 
 
 

Das «Dossier Germain Rukuki» in Kürze


Germain Rukuki (45) hat in Bujumbura Volkswirtschaft studiert. Als Mitglied von ACAT-Burundi seit 2004,besucht er von 2006 bis 2010 Haftanstalten in ganz Burundi. 2011 übernimmt er die Verantwortung für Finanzen und Administration der Organisation.


2015 lässt sich der damalige Präsident Pierre Nkurunziza unter Verstoss gegen die Verfassung und das Arusha-Abkommen für eine dritte Amtszeit wählen. Er verfolgt Menschenrechtsverteidiger und politische Gegner, die er für die Proteste gegen seine illegale dritte Amtszeit verantwortlich macht. ACAT-Burundi wird die Bewilligung entzogen. Rund 400 000 Burunder verlassen das Land – so auch mehrere Mitglieder der Organisation. Sie setzen ihre Arbeit gegen Folter und Misshandlung vom Ausland aus fort. Rukuki bleibt in Burundi und beginnt, für die Burundische Vereinigung katholischer Juristen (Association burundaise des juristes catholique, AJCB) zu arbeiten. Dennoch betrachtet das Regime Rukuki als Beauftragten von ACAT-Burundi. Germain Rukuki wird am 13. Juli 2017 festgenommen. Als die Sicherheitskräfte einige Stunden später zu seinem Haus zurückkehren, um auch seine Frau zu verhaften, ist diese nicht mehr anwesend. Nach der Festnahme ihres Mannes hat sie Burundi sofort verlassen. Am 26. April 2018 wird Germain Rukuki wegen «Rebellion», «Untergrabung der staatlichen Sicherheit», «Teilnahme an einer Aufstandsbewegung» und «Attentat auf das Staatsoberhaupt» zu 32 Jahren Haft verurteilt. Im Juli 2020 wird diese Verurteilung aufgehoben. Es folgt eine erneute Prüfung der Fakten mit neuen Richtern vor dem Berufungsgericht. Am 21. Juni 2021 wird seine Strafe von 32 Jahren auf ein Jahr reduziert. Nur der Vorwurf der «Rebellion», mit dem die burundische Justiz das Gesicht wahren will, wird aufrechterhalten. Nach seiner Freilassung lebt Rukuki drei Monate lang im Versteckten in Burundi. Im September geht er ins Exil nach Belgien. Seine Frau und seine drei Kinder, die sich in Ruanda aufhalten, folgen ihm im Februar 2022.

 
 
 

Innerhalb der ACAT-Bewegung haben viele Menschen für Sie und für Ihre Freilassung gebetet. Eine nützliche Aktionsform, in Ihren Augen?


Das Gebet ist eine Art der Intervention. Durch das Gebet, auch wenn es aus wenigen Worten besteht, können wir Gott bitten, uns zu helfen. In meinem Fall hat er das getan.


Was war Ihrer Meinung nach ausschlaggebend für Ihre Freilassung?


Es gab viel «Lärm» um meinen Fall. Am Tag meiner Verhaftung redeten alle darüber in den sozialen Netzwerken. Bei der Einvernahme durch den nationalen Geheimdienst kam ein Kommissar und erzählte seinem Kollegen, der mich verhörte, dass es gerade Warnmeldungen über meine Verhaftung hagle. Die FIACAT (ACAT-Dachorganisation), die ACAT-Netzwerke, Front Line Defenders, Amnesty International und viele andere führten Aktionen durch. All diese Briefe und Kampagnen haben meinen Fall in der ganzen Welt bekannt gemacht. Sie veranlassten Diplomaten dazu, Druck auf die burundischen Behörden auszuüben. Die Vereinten Nationen befragten die burundische Regierung zu meinem Fall. Sie haben nie eine Antwort erhalten. All dieser Lärm hat geholfen, das Versagen der burundischen Justiz zu entlarven – und hat schliesslich zu meiner Freilassung geführt.

 
 

«Der Lärm um meinen Fall hat zu meiner Freilassung geführt.»

 

 
 

Waren Sie über diese Aktionen informiert?


Als Gefangener war es nicht einfach, mit der Aussenwelt zu kommunizieren. Ich wurde dauernd überwacht – sogar von Mitgefangenen, die damit beauftragt wurden. Einige Wärter jedoch waren nett und leiteten mir Informationen von meiner Familie oder dem Präsidenten von ACAT-Burundi, der sich bereits in Brüssel befand, weiter. Auf diesem Weg konnte ich Amnesty auch mein Einverständnis für den «Briefmarathon» geben. Die Kampagne startete am Geburtstag meines dritten Sohnes.

Hätten diese Aktionen auch kontraproduktiv sein und zum Beispiel härtere Haftbedingungen nach sich ziehen können?


Das war mir egal ... Ich war bereits Opfer; das Wichtigste war, zu verhindern, dass andere Menschen ebenfalls ungerechtfertigt in Gefahr gerieten. Die Unterstützung aus der ganzen Welt hat mich sehr ermutigt, optimistisch und resilient zu bleiben.

Wurden Sie gefoltert?


Nicht körperlich. Trotz der Tatsache, dass Folter in Burundi allgegenwärtig ist. Die internationalen Aktionen zu meinen Gunsten haben mich vom ersten Tag an vor körperlicher Folter bewahrt. Hingegen war ich sowohl im Kerker des nationalen Geheimdienstes als auch im Gefängnis anderen Angriffen ausgesetzt und wurde meiner Rechte beraubt.

 
 

«Die internationalen Aktionen zu meinen Gunsten haben mich vom ersten Tag an vor körperlicher Folter bewahrt.»

 

 
 

Sie setzen sich von Belgien aus weiterhin für die Einhaltung der Menschenrechte in Burundi ein. Wie gehen Sie vor?


Ich habe die Organisation «Gemeinsam für die Unterstützung von gefährdeten Menschenrechtsverteidigern» (ESDDH) ins Leben gerufen. Sie wurde gegründet für Menschenrechtsverteidiger, die jeden Tag willkürlichen Verhaftungen und Inhaftierungen ausgesetzt sind. Basierend auf meinen Erfahrungen in der Haft will die Organisation auch menschenwürdige Haftbedingungen in burundischen Gefängnissen erwirken. Wir veröffentlichen Berichte aufgrund von Informationen, die von unseren Beobachtern in Burundi gesammelt wurden. Ausserdem betreiben wir Advocacy-Arbeit bei nationalen und internationalen Institutionen zum Schutz und zur Förderung von Menschenrechten.

Hat Ihre Arbeit trotz der grossen geografischen Entfernung eine Wirkung? 


Ja. 2021 habe ich mich beispielsweise bei einer ausländischen Institution für einen Burunder eingesetzt, der am helllichten Tag entführt worden war. Er wurde gefunden und freigelassen. Unsere Berichte wiederum werden an die burundischen Behörden gesendet und von diesen gelesen. Mein Werdegang sowie die Erfahrungen aus dem Gefängnis verleihen mir grosse Glaubwürdigkeit, wenn es darum geht, schlechte Haftbedingungen und andere Grundrechtsverletzungen in meinem Land anzuprangern.

Ein Engagement, das für Sie vielleicht auch in Ihrem Exilland nicht ganz ungefährlich ist?


Im Allgemeinen fühle ich mich hier sicher. Aber es stimmt, die Belästigungen gehen weiter. Manchmal erhalte ich anonyme Nachrichten, in denen von meinen Verwandten in Burundi die Rede ist. Und die Regularisierung meiner Kinder in Belgien lässt auf sich warten, weil die burundischen Behörden behaupten, sie könnten uns keine Geburtsurkunden ausstellen.

Wie würden Sie nach all dem, was Sie erlebt haben, Ihren derzeitigen Gemütszustand beschreiben?


Ich fühle viel Liebe. Und ich bin stolz. Ich konnte dazu beitragen, dass die Welt weiss, wie sehr die burundische Justiz ein Handlanger der Exekutive ist – und dass es deshalb weniger Opfer gibt. Und ich bin stolz auf die Leben, die ich gerettet habe. Bereits als Freiwilliger von ACAT konnte ich während meiner Besuche in Haftanstalten aussergerichtliche Hinrichtungen verhindern. Später schaffte ich eine Person, die aufgrund ihres Aktivismus ihr Leben riskierte, ausser Landes. Und im Jahr 2017 gelang es mir nach meiner Festnahme, als ich hinter Schloss und Riegel sass, während des Verhörs mehrere Personen zu warnen, die ebenfalls im Visier der Behörden standen. Dadurch konnte ihr Leben gerettet werden.

 
 

«Ich bin stolz auf die Leben, die ich gerettet habe.»

 

 
 

Gibt Ihnen das Gebet Kraft?


Für mich bedeutet Christsein, dass man in einem Geist des Respekts handelt. Ich bete, aber man sollte das Gebet auch nicht überbewerten. Es ist ein erster Schritt. Was für mich am meisten zählt, ist der Akt der Empathie, des Mitgefühls und der Hingabe gegenüber Mitmenschen. Wenn man etwas Gerechtes und Gutes für die Gesellschaft tun kann, muss man handeln – ohne Zögern und ohne Angst. Der Zeitpunkt zum Handeln ist heute, denn das Morgen entzieht sich unserer Kontrolle und gehört uns nicht. Wir müssen versuchen, ein Vorbild für die Gesellschaft zu sein. Wir sind auf der Erde, um die Menschen zu schützen und zu retten.


Was ist mit den Folterern?


Auch sie müssen wir schützen und retten. Wir müssen ihnen helfen, sich zu ändern, denn niemand wird als Verbrecher geboren. Es ist die Gesellschaft, die manche Menschen dazu bringt, es zu werden.

Wie sehen Sie die Zukunft Burundis?


Seit unser Land 1962 von Belgien unabhängig wurde, haben ethnisch motivierte Kriege und zyklische Krisen Burundi in Trauer versetzt. Das Volk ist müde. Wir brauchen eine Lösung, die alle sozialen Komponenten des Landes vereint, anstatt sie zu spalten. Ich sehne mich nach dem Tag, da jeder Bürger des Landes als Burunder bezeichnet wird und nicht nach seiner ethnischen Zugehörigkeit. Ich glaube, dass der Schlüssel zu einem dauerhaften Frieden in der Versöhnung liegt, indem man den Weg der Rache verlässt und jenen der Vergebung wählt. Es sind die Opfer, die den ersten Schritt machen müssen. Würden die Täter die Vergebung verweigern? Ich glaube nicht. Wir sind dazu aufgerufen, eine Kultur der Vergebung und der Liebe zu etablieren.

Das ist wohl leichter gesagt als getan ...


Trotzdem glaube ich daran. Ich arbeite daran, dieses Ziel zu erreichen, und ich bin überzeugt, dass es möglich ist. Das gesamte burundische Volk, dauerhaft in Frieden vereint, wird mein ganzer Stolz sein.

 

Dieses Interview ist im Magazin «Aktiv werden mit ACAT» vom Januar 2023 erschienen.

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→ Mehr wissen über die Rechte von Gefangenen in Burundi: Lesen Sie den letzten Bericht von ACAT-Burundi auf acatburundi.org (auf Französisch)

 
 
 

BILD: Germain Rukuki

 
 

Germain Rukuki mit seiner Familie, seit Februar 2022 wieder vereint in Brüssel.