Bild: ACAT-Schweiz

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aus dem acatnews, April 2019

 

«Wenn ich ihm erzähle, was ich mache, kann er ein bisschen daran teilhaben»

Wie führt man eine Beziehung zu einem Partner, der 8000 Kilometer entfernt lebenslang im Gefängnis sitzt?

 

Die Bernerin Simone Thompson erklärt, warum sie Larry aus Colorado geheiratet hat, und was sie zusammenhält.

Interview: Katleen De Beukeleer, ACAT-Schweiz

 

«Adressat unbekannt». Mit dieser Meldung kam der allererste Brief zurück, den Simone Thompson einige Wochen zuvor an einen Gefangenen in den USA geschrieben hatte. Der Mann hatte sich das Leben genommen.

Das war 2014. Als ehemalige Bewährungshelferin hatte die Niederwangenerin schon einiges gesehen und erlebt; dass gerade ihr erster Briefwechsel mit einem US-Gefangenen so enden musste, war dann doch ein herber Rückschlag. Eigentlich wollte sie die Idee mit dem Schreiben gleich wieder sein lassen. Doch zwei Wochen später klickte sie nochmals durch die Website von Write a prisoner, wo interessierte Inhaftierte sich vorstellen können. Und da stiess Simone Thompson auf einen Text, der sie umhaute.

 

Simone Thompson, welcher Satz hat Sie entscheiden lassen, unter zweitausend potenziellen Brieffreunden genau Larry einen Brief zu senden?
Auf Write a prisoner schrieb Larry, das, was ihn umbringe, sei der immerwährende Krebs der Einsamkeit. Niemanden zu haben, der für ihn da sei. Dieser Satz hat mich dermassen gerührt, dass ich sofort einen Brief verfasste. Ich schrieb, dass ich gerne für ihn da sei. Kurze Zeit später kamen sieben Seiten zurück.


…Und es dauerte nicht lange, bis mehr daraus wurde?
Ja, nach etwa zehn Briefen schlug er mir vor, zu heiraten. Drei Monate nach unserem ersten Kontakt heirateten wir.

 

Simone Thompson (Mitte) und ACAT-Schweiz-Mitarbeiter Dominique Joris (rechts) während ihres Besuches bei Larry Thompson (links) im Gefängnis «Buena Vista Correctional Facility» (Colorado, US), Juni 2018.


Warum taten Sie das?
Ich fand ihn von Anfang an sehr charmant und liebenswürdig. Ausserdem spürte ich, dass er Halt brauchte. Er war vor vierzehn Jahren schon mal verlobt gewesen. Damals dachte er noch, dass er aus dem Gefängnis rauskommen würde. Als man ihm eine neue Gerichtsverhandlung verweigerte, ging die Verlobung in die Brüche.


Sind Sie verliebt?
Ja, damals und heute immer noch!


Trotzdem könnte man Ihnen leicht Gutmenschentum vorwerfen …
Ich habe natürlich einen Sozialtick. Ich habe schon einen grossen Teil meines Lebens in die Dienste Anderer gestellt. Sonst wäre ich nicht so lange freiwillige Bewährungshelferin gewesen. Und natürlich spielt auch eine gewisse Risikofreudigkeit mit. Mir war bewusst, dass einsame Strafgefangene einen total beschlagnahmen können. Aber ich wusste auch: Schlimmer als damals mit meinem drogenabhängigen, mittlerweile verstorbenen Mann kann es nicht werden.


Was gefällt Ihnen an Larry am meisten?
Sein Aussehen. Und: Er hat ein irrsinniges Allgemeinwissen. Er hat sich seine ganze Bildung selber im Gefängnis zugelegt. Mit ihm kann man wirklich über alles reden. Als ich zum ersten Mal die Tankdeckel meines Occasionsautos aufmachen wollte, konnte ich den Hebel nicht finden – weder im Fussraum, noch am Armaturenbrett. Ich erzählte es Larry, der noch nie ein Auto aus der heutigen Zeit gesehen hat. Er sagte mir: schaue mal unter dem Sitz. Und tatsächlich, da war der Hebel.


Wie muss man sich Ihren Kontakt mit Larry vorstellen?
Wir telefonieren jeden Tag zwei- bis dreimal. Ich sorge dafür, dass ich immer zu Hause bin während der Zeitfenster, in denen er telefonieren darf. Wir reden über meinen Englischkurs, über die Nachbarschaft, über die Hunde, über die Verwandtschaft, Freunde, die Aktualität, das was im Fernsehen kommt.


Wie ein ganz normales Paar…
Genau. Wenn ich weggehe, will er wissen, mit wem und wo ich war. Nicht aus Kontrollzwang, sondern weil ich sein Leben lebe, wie er sagt. Wenn ich ihm erzähle, was ich mache, kann er ein bisschen daran teilhaben.


Für zwei zu leben, ist aber auch eine Riesenverantwortung für Sie.
Ja, das ist so. Aber trotz allem bringt mir diese Beziehung viel mehr als die, die ich mit meinem verstorbenen Mann führte.


Sie telefonieren und schreiben Briefe. Wie oft haben Sie Larry schon gesehen?
Ich konnte zweimal nach Colorado reisen. Insgesamt waren wir siebenmal 5.5 Stunden zusammen.


Wie reagierte Ihr Umfeld auf Ihre Heirat mit Larry?
Einige stehen von Anfang an voll dahinter. Viele Leute finden aber immer noch, ich spinne. Eine Verwandte sagte: «Wenn er rauskommt, muss ich jeden Tag kontrollieren, ob du noch lebst.»


Wie gehen Sie mit solchen Kommentaren um?
Früher versuchte ich noch, die Leute von Larrys Unschuld zu überzeugen. Mittlerweile haben Larry und ich einen solch guten Zusammenhalt, dass ich bei gehässigen Kommentaren nur kalt lächeln kann.


Wie wichtig ist Ihnen die Überzeugung, dass Larry unschuldig im Gefängnis sitzt?
Dass er unschuldig ist, habe ich erst nach unserer Heirat erfahren. Larry hat diesen Punkt nie von sich aus angesprochen. Erst als ich anfing, tonnenweise Akten zu lesen, kamen grosse Fragen auf. Nachdem ich die Bilder des Opfers studiert hatte, war mir schleierhaft, wie Larry diesen Mann alleine erstochen haben könnte. Das Opfer hatte keine einzige Abwehrverletzung an den Händen. Als ich Larry fragte, wie das möglich sei, sagte er: «Die Antwort ist, dass ich es nicht war.» Diese Erkenntnis war schauderhaft.


Haben Sie manchmal Angst, dass Larrys Liebe für Sie vorgetäuscht ist?
Angst habe ich nicht. Aber mir ist bewusst, dass das so sein könnte. Er sagt zwar, dass er im Falle einer Freilassung nichts Anderes machen könnte, als mir für meine Unterstützung zu danken. Aber ich weiss: Es besteht die Möglichkeit, dass er dann nichts mehr von mir wissen will. Ich weiss, wie Häftlinge funktionieren – und auch, wie es ist, wenn sie wieder frei sind.


…Und was ist, wenn Sie beide sich trennen würden, während er noch im Gefängnis ist?
Auch dann würde ich ihm weiterhin helfen. Die Heirat, das sind unsere Emotionen. Diese kann ich aber von der Ungerechtigkeit trennen, die Larry angetan wurde. Ich werde ihn in seinem Kampf gegen diese Ungerechtigkeit nicht fallen lassen.


Was gibt Ihnen die Kraft, diese Ungerechtigkeit jeden Tag auszuhalten?
Mein Glauben an Gott ist mir extrem wichtig. Es gibt zwar so viele Katastrophen auf der Welt, dass ich mich manchmal frage, ob Gott die Augen zugemacht hat. Trotzdem ist es ein Halt. Vor allem, weil Larry und ich uns auch da auf der gleichen Ebene befinden. Manchmal beten wir zusammen am Telefon. Ich hoffe doch, dass da oben jemand dafür sorgen wird, dass es in unserem Fall endlich Gerechtigkeit gibt.

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Simone Thompson (68) ist pensionierte Personalberaterin. Sie war auch lange Zeit ehrenamtliche Bewährungshelferin: Sie half Strafentlassenen und Leuten in Halbfreiheit bei der Reintegration. Seit Dezember 2014 ist sie mit Larry Thompson verheiratet. Sie wohnt mit ihren zwei Hunden in Niederwangen.

 
 

 

John Dicke erzählt in seinem Buch «Absolute Innocence» die Geschichte von Larry Thompson (Sinseer Publishing, Juni 2018).