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aus dem acatnews, April 2019

 

Es fehlt Farbe im Gerichtssaal

Schwarze Angeklagte, weisse Juroren: In vielen Geschworenengerichten in den USA fehlt ein ethnisches Gleichgewicht.

 

Allzu oft werden Afroamerikaner und weitere Minderheiten aus dem Geschworenen-Pool wegsortiert. Eine Diskriminierung, die es in der Theorie längst nicht mehr geben sollte – aber tödliche Folgen haben kann.

von Katleen De Beukeleer, ACAT-Schweiz

 

Earl Jerome McGahee aus Alabama wurde 1986 wegen zweifachen Mordes zum Tode verurteilt. McGahee war schwarz, so wie 55 Prozent der Menschen in seinem Bezirk. Die Geschworenen hingegen, die das Todesurteil aussprachen, waren ausnahmslos weisser Hautfarbe. Der Staatsanwalt hatte alle 24 afroamerikanischen potenziellen Jurymitglieder aus dem ursprünglichen Jury-Pool gestrichen. Er sei davon ausgegangen, dass viele dieser Personen über eine geringe Intelligenz verfügten, begründete der Staatsanwalt sein Vorgehen. Belege für seine Behauptung konnte er keine vorlegen. Die Jurykandidaten hatten die meisten Fragen des Staatsanwaltes mittels Händeheben beantwortet; Fragen zu ihrer Bildung gab es keine. 2009 erkannte ein Bundesgerichtshof darin eine rassendiskriminierende Juryauswahl. McGahee wurde ein neuer Prozess gewährt.

 

Bild: Michal Jarmoluk from Pixabay


Gemeinsames Urteil,  faireres Urteil?
In US-amerikanischen Strafprozessen hat jeder Angeklagte das Recht auf ein Geschworenengericht. Nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Bürger urteilen über seine Schuld oder Unschuld. Die Idee dahinter: Das Fehlerrisiko ist kleiner, wenn mehrere Leute gemeinsam zu einem Urteil kommen. Die Jurymitglieder sollen einen Querschnitt der Bevölkerung darstellen. Dadurch soll deren Entscheidung fairer und demokratischer sein als die eines Einzelrichters.
Doch mit diesem Querschnitt hapert es gewaltig. Und das ist ein Problem, so sind sich Experten einig. Patrick Bayer zum Beispiel fand in einer Studie zum Einfluss der Ethnie der Jury auf Kriminalprozesse heraus, dass Angeklagte jeglicher Ethnie weniger leicht verurteilt werden, wenn mehr Mitglieder ihrer Ethnie in der Jury sitzen.


Harte Fakten  aus North Carolina
Das US-Justizsystem ist gar nicht so farbenblind wie es die Verfassung vorschreibt. Was oft anhand von Einzelfällen erhärtet wurde und sogar als Volksweisheit galt, konnte nun im US-Bundesstaat North Carolina belegt werden. Ein Team um Rechtsprofessor Ron Wright wertete Dokumente von über 1 300 Gerichtsverfahren in North Carolina aus, in die um die 30 000 potenzielle Juroren involviert waren. Der Befund der Studie: Afroamerikaner sind zu einem viel kleineren Prozentsatz in der Jury vertreten als im ursprünglichen Jury-Pool. «Ja, die Juryauswahl ist so rassistisch, wie Sie denken», fasste Ronald Wright seine Befunde im Dezember 2018 in der New York Times zusammen. Weitere Studien zeigen dasselbe Bild für die meisten US-Staaten.

 

 

Die Begründungen sind manchmal grotesk: Ein Kaugummi im Mund, rot gefärbte Haare oder eine Sonnenbrille können reichen, um aus dem Jury-Pool verabschiedet zu werden.

 


Raus wegen roten Haaren
Die Batson-Regel, welche diskriminierende Argumente gegen potenzielle Juroren verbietet (siehe Infografik), ermöglichte Earl Jerome McGahee einen neuen Prozess. Doch Studien wie die von Ron Wright in North Carolina zeigen, dass die Rassendiskriminierung in der Juryselektion weitergeht, vor allem in schweren Kriminal- oder Todesstrafe-Fällen.
Dank der Batson-Regel ist «eine geringe Intelligenz» heute ein nur noch selten gehörtes Argument für einen peremptory strike. Doch Staatsanwälte bleiben kreativ, um möglichst viele Afroamerikaner von der Jury fernzuhalten. Das belegte die Nichtregierungsorganisation Equal Justice Initiative (EJI) mit Sitz im US-Bundesstaat Alabama 2010 in einem Bericht  zur Juryauswahl in mehreren Südstaaten. Die Begründungen sind manchmal grotesk: Ein Kaugummi im Mund, rot gefärbte Haare oder eine Sonnenbrille können reichen, um aus dem Jury-Pool verabschiedet zu werden. Die Begründungen der Staatsanwälte hingen oft stark mit Rassenstereotypen zusammen, so berichtet die EJI. Staatsanwälte würden behaupten, Menschen zu streichen, weil sie in einer Region mit hoher Kriminalitätsrate wohnen, arbeitslos sind oder ein aussereheliches Kind haben. «Solche Gründe werden nicht immer als Vorwände für Diskriminierung anerkannt», schreibt die EJI.

 


Staatsanwälte behalten ihre Jobs
Der Weg zu einer ausgeglichenen Zusammensetzung der Jury ist steinig. Unter Staatsanwälten, Richtern und Exekutivbehörden gibt es weiterhin einen Mangel an ethnischer Diversität. Auch viele Strafverteidiger können oder wollen keine Anklage aufgrund rassistischer Voreingenommenheit erheben. Dazu komme, so die EJI, dass Staatsanwälte kaum etwas zu befürchten hätten. Personelle Konsequenzen seien rar. Ein flagrantes Beispiel: In Houston County in Alabama werden Fälle mit drohender Todesstrafe immer noch von vollständig oder fast vollständig weissen Jurys beurteilt. Dies, obwohl die dortige Staatsanwaltschaft schon fünf ihrer Fälle aufgrund der Batson-Regel neu aufnehmen musste.

 

 

Zurück bleiben pflichtbewusste, stille Bürger, denen von ihrem eigenen Staatsapparat unterstellt wird, zu blöd zu sein um das Gesetz zu verstehen oder sogar Straftaten begangen zu haben.

 


Justiz verliert Legitimität
Zurück bleiben pflichtbewusste, stille Bürger, denen von ihrem eigenen Staatsapparat unterstellt wird, zu blöd zu sein um das Gesetz zu verstehen, oder sogar Straftaten begangen zu haben. Oft führe die Demütigung zu langanhaltenden Schamgefühlen, so die EJI. Noch schwerere Konsequenzen tragen die Angeklagten, insbesondere solche, die die Todesstrafe riskieren.
Letztendlich macht die diskriminierende Juryselektion das Ideal eines gerechten US-Justizsystems zum Märchen. «Wenn grosse Segmente der Gesellschaft ausserhalb des Gerichtsgebäudes bleiben während andere Leute die Verdikte aussprechen, dann leidet die Legitimität des Systems», so Rechtsprofessor Ron Wright. Misstrauen und Pessimismus bei den betroffenen Minderheiten seien die Folge.


Was kaputt ist, muss repariert werden
«Das US-Justizsystem ist kaputt», hört man immer wieder. An Lösungsvorschlägen fehlt es nicht. Die EJI nennt in ihrem Bericht vierzehn Massnahmen. Eine konsequente Durchsetzung bestehender Gesetze sei unerlässlich, ebenso Training und Unterstützung von Strafverteidigern, damit diese ihre Klienten besser gegen Diskriminierung schützen können. Zentral in jeder Analyse steht auch die Transparenz. Ron Wright kommt im Jury Sunshine Project zum Schluss: «Der Drehpunkt, der Jurypraktiken ändern könnte, befindet sich beim Gerichtsschreiber». Die Gerichtsschreiber dokumentieren den Verlauf eines Prozesses – ihre Protokolle sind aber meistens nur schwer zugänglich und nicht digitalisiert. «Es sollte nicht nötig sein, hunderte von Kilometern zwischen Gerichtsgebäuden fahren zu müssen», schreibt Wright. Und: «Der Zugang zu diesen Daten soll nicht von speziellen Gesuchen um eine gerichtliche Genehmigung abhängig sein». Nur effiziente Datenerhebungen machen es möglich, Muster zu entdecken, Fehler zu orten und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.


1868 verankerten die USA das Recht jedes Angeklagten auf eine unparteiliche Jury in der Verfassung. Heute, 151 Jahre später, ist es an der Zeit, die Verfassung in die Praxis umzusetzen. Die Reparaturkiste für das kaputte System steht bereit.

 

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«Sie werden mich umbringen»

 

Larry Thompson wurde 1994 in Colorado zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Er erzählt, wie er die Jury-Auswahl erlebte.

 

«Ich war im Gerichtssaal, als die Jury für meinen Prozess ausgewählt wurde. Jedes potenzielle Jurymitglied schwarzer Hautfarbe wurde abgelehnt, abgesehen von einer einzigen, älteren Frau. Schliesslich war meine Jury zusammengesetzt aus zehn Weissen, einer Afro-Amerikanerin und einem Hispano-Amerikaner. Der Staatsanwalt setzte alles daran, die afro-amerikanischen Geschworenen auszuschliessen. Es wurden Fragen gestellt wie: Sind Sie schon mit der Polizei in Konflikt geraten? Kennen Sie jemanden im Gefängnis? Glauben Sie, dass das Justizsystem funktioniert? Ich erinnere mich noch gut an die abschliessende Befragung einer afro-amerikanischen Jurykandidatin. Sie hatte eine dunkelschwarze Haut. Sie sagte, sie halte das Justizsystem für unfair und schenke ihm kein Vertrauen, dennoch könne sie in einer Jury sitzen, denn in ihrem Urteilsvermögen sei sie unvoreingenommen. Trotzdem wurde sie weggeschickt. Ich hatte ein extrem schlechtes Gefühl. Meine Jury war nicht heterogen genug, bestand nicht aus Menschen meiner Gemeinschaft und war keineswegs repräsentativ für die Bevölkerung von Denver, wo ich herkomme. Während der Jury-Auswahl sagte ich meinem Anwalt: ‚Sie werden mich umbringen.‘ Er sagte: ‚Alles wird gut.‘ Seither und bis heute, 26 Jahre später, geht es mir überhaupt nicht gut.»

 

Larry Thompson im Interview mit ACAT-Schweiz, März 2019

 

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