(BILD: Alphabet1234567890, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)

 
 
 
 
 
 

Karfreitagskampagne 2021: Hintergrund

 

Ein Volk, das nicht sein darf

 

Die verzweifelte Lage der UigurInnen in Xinjiang ist bekannt – endlich. Die systematische Repression dieser muslimischen Minderheit durch den chinesischen Staat hat bereits eine lange Geschichte. Zusehends wachsen das Ausmass und die Grausamkeit dieser beispiellosen Massenunterdrückung.

 
 

Merdan Ghappar ist es gewohnt, vor der Kamera zu stehen. Flott und reizvoll sieht das uigurische Model auf den Bildern und in den Werbevideos des chinesischen Online-Händlers Taobao aus. Im August 2020 jedoch lässt der 31-Jährige der BBC ein ganz anderes Video zukommen.
In diesem einminütigen Video filmt Ghappar sich selbst in einer Zelle. Die Haare ungestylt, der Gesichtsausdruck ängstlich und müde, die Kleider dreckig. Seine linke Hand ist mit einer Kette an einem Bett festgebunden. Aus Lautsprechern im Hintergrund ertönen grelle chinesische Propagandabotschaften.


Ghappar wurde im August 2018 verhaftet und wegen Cannabisverkaufs zu 16 Monaten Gefängnis verurteilt. Eine falsche Anklage, wie seine Freunde betonen. Einen Monat nach seiner Freilassung holte ihn die Polizei erneut. Die Behörden erklärten lediglich, dass er vielleicht ein paar Tage Unterricht in seinem Heimatort brauche – ein Euphemismus für die Lager in der chinesischen Autonomen Region Xinjiang.


Von einem solchen Lager aus hat das Model es irgendwie geschafft, Zugang zu seinem Telefon zu bekommen und mit der Aussenwelt zu kommunizieren. Die Textnachrichten, die er der BBC ebenfalls zuspielt, sind erschütternd. «Mein ganzer Körper ist mit Läusen bedeckt», schreibt er. «Jeden Tag fange ich sie und pflücke sie von meinem Körper ab – es juckt so sehr.» Ghappar schildert auch die Zustände im Polizeigefängnis, in dem er vorher inhaftiert war. Die Zellen seien dort so übervoll gewesen, dass es keinen Platz zum Schlafen gab. Die Gefangenen müssten ständig einen Sack über dem Kopf tragen, und seit Ausbruch der Corona-Pandemie zusätzlich eine Hygienemaske. Andauernd habe man unerträgliche Schreie von Mitgefangenen aus dem «Verhörraum» gehört.


Vor seiner Verhaftung stand Merdan Ghappar in regelmässigem Kontakt mit seinem Onkel, der im Exil in den Niederlanden wohnt. «Er wurde nur festgenommen, weil ich im Ausland bin und an Protesten gegen chinesische Menschenrechtsverletzungen teilnehme», erklärt der Onkel gegenüber der BBC. Diese Vorgehensweise ist in anderen Fällen gut dokumentiert.  


Masseninternierung


Xinjiang, wo Merdan Ghappar gefangen gehalten wird, ist der Siedlungsschwerpunkt der turksprachigen, meist muslimischen Uiguren. Ghappar ist nur ein Gefangener unter vielen: Glaubwürdige Quellen gehen davon aus, dass über eine Million Uiguren in Masseninternierungslagern inhaftiert sind oder waren. Die chinesische Regierung begann 2014 mit der Errichtung dieser Lager, in welchen die Uiguren willkürlich und unter brutalsten Verhältnissen gefangen gehalten werden. Beobachter sagen, dies stelle die grösste massenweise Inhaftierung einer ethnischen Minderheit dar, die es derzeit auf der Welt gebe.


Ab 2017 wurde in der westlichen Presse von den Internierungslagern berichtet. China räumte 2018 die Existenz von Lagern ein, behauptete jedoch, es handle sich nicht um Internierungslager, sondern um «berufliche Bildungseinrichtungen», die den Bildungsstand der Uiguren verbessern und ihnen einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt schaffen sollten. Wie immer verbat sich China die «Einmischung in innere Angelegenheiten».

 
 

Erst mit einem Artikel der New York Times im November 2019 wurde der Beweis für die unvorstellbaren Ausmasse der chinesischen Repression seit 2014 erbracht.

 
 

Erst mit einem Artikel der New York Times im November 2019 wurde der Beweis für die unvorstellbaren Ausmasse der chinesischen Repression seit 2014 erbracht. Unter dem Titel «Absolutely No Mercy» veröffentlichte die US-Zeitung die sogenannten «China Cables», aus Informationslecks stammende Geheimdokumente der chinesischen Regierung aus 2017 und 2018. Dutzende Journalistinnen und Experten hatten diese Geheimdokumente ausgewertet. Ihr Fazit: An der brutalen Repressionspolitik gegenüber Uiguren könne es keinen Zweifel geben. Die «Berufsbildungszentren» in Xinjiang seien in Wahrheit schwer bewachte Umerziehungslager, wo ein ganzes Volk indoktriniert und bestraft wird.


Eine lange Geschichte der Unterdrückung


Die Unterdrückung der Autonomen Region Xinjiang hat eine lange Geschichte. Aus Sicht der Uiguren haben die Chinesen die «Zweite Republik Ostturkestan», eine erst 1944 entstandene sozialistische Volksrepublik der Turkvölker in einem kleinen Teil Xinjiangs, 1949 gewaltsam besetzt. Die chinesische Seite hat eine andere historische Lesart: Die chinesischen Soldaten seien von den Uiguren als Befreier begrüsst worden, die glücklich gewesen seien, Teil der kommunistischen Revolution zu sein.1


Nach der Besetzung von «Ostturkestan» 1949 gab es in Xinjiang immer wieder gewaltsame separatistische Umtriebe. Von Anfang an versuchte die chinesische Regierung Fakten zu schaffen mit der Ansiedlung von Han-Chinesen, die ihre Kultur und ihre Sprache mitbrachten. Der Anteil der Han-Chinesen betrug 1949 nur vier Prozent der Bevölkerung Xinjiangs. Im Jahr 2019 war ihr Anteil bei einer Gesamtbevölkerungszahl von rund 29,6 Millionen Einwohnern auf mehr als vierzig Prozent angewachsen. Weltweit leben etwa 20 Millionen Uiguren, etwa 18 Millionen davon in Xinjiang und im benachbarten Kasachstan. Geschätzte 2 Millionen Uiguren haben ihre Heimat verlassen und sind ins Exil gegangen.


Xinjiang mit seinen Grenzen zu sechs weiteren Staaten war geopolitisch und geostrategisch für China von Anfang an von grosser Bedeutung. Hervorzuheben ist, dass sich in der autonomen Region Xinjiang auf einer Fläche von 1,6 Millionen km2 (was vierzig Mal der Fläche der Schweiz entspricht) rund dreissig Prozent der kontinentalen Ölreserven und dreissig Prozent der Gasreserven befinden, ohne dass die einheimischen Uiguren von der Ausbeutung dieser Ressourcen profitieren könnten. Die Bedeutung Xinjiangs nahm noch zu, als der 2013 angetretene chinesische Staatspräsident Xi Jinping das gewaltige Infrastrukturprojekt «Neue Seidenstrasse» – mit Xinjiang als Kernregion – zur Chefsache erklärte. Zeitgleich war die Zunahme der Repression gegen die Uiguren zu beobachten.2


Die Unterdrückung hatte jedoch bereits im Jahre 2009 ein solches Ausmass angenommen, dass Hunderte von Uiguren in der Hauptstadt Urumqi zunächst friedlich gegen Diskriminierung und Ungleichbehandlung protestierten. Als die Proteste nach massivem Einsatz von Polizeigewalt eskalierten, starben mindestens 197 Menschen, Hunderte wurden verletzt. In der Folge kam es 2013 und 2014 zu spektakulären Attentaten, für die eine uigurisch‑islamistische Separatistenvereinigung die Verantwortung übernahm. Diese Attentate wurden von der chinesischen Regierung mit aller Härte beantwortet und propagandistisch ausgeschlachtet. China stilisiert sich seither international und mit Verweis auf die Ereignisse von 9/11 als Vorkämpfer gegen den Islamismus herauf und lenkt auf diese Weise von den Ursachen der Attentate ab.

 
 

Gelb: China

Rot: Xinjiang

(BILD: TUBS, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)

 

 
 

Genereller «Terrorismusverdacht»


Ohne diese Gewalt zu rechtfertigen, sind die Attentate zuallererst als eine Reaktion auf den wachsenden Terror von Seiten der chinesischen Regierung zu werten. Es hat tatsächlich eine Reihe Uiguren gegeben, die sich in anderen Ländern dem IS angeschlossen haben. Dennoch ist es ein perfider Propaganda-Schachzug, alle Uiguren unter Terrorismusverdacht zu stellen und auf diese Weise gleichzeitig die wachsende Islamophobie der westlichen Welt zu bedienen. Viele durchaus kritische westliche Beobachter haben Mühe, zwischen Islam und islamistischem Terrorismus zu differenzieren, während etwa mit dem Buddhismus eine grundsätzliche Friedfertigkeit assoziiert wird.


Mangelndes westliches Interesse


Im Rückblick zeigt sich ein grosser Unterschied im Umgang der westlichen Welt mit dem durchaus vergleichbaren Schicksal der Uiguren und jenem der Tibeter. Im Oktober 1950 marschierte die Volksarmee in das durch den tibetischen Buddhismus geprägte Tibet ein, das fortan zur Autonomen Region Tibet wurde. Die Tibeter wehrten sich anfangs mit allen, auch gewaltsamen Mitteln gegen die chinesischen Besatzer. Die Flucht des Dalai Lama nach Indien im Jahre 1959 wurde von anhaltenden Protesten der westlichen Welt begleitet. Die Kritik an China angesichts der Repression in Tibet ist nie verstummt, und die Tibeter können sich bis heute glücklicherweise einer weltweiten Solidarität von Seiten von Menschenrechtsgruppierungen gewiss sein. Das im Exil lebende weltliche und geistige Oberhaupt Dalai Lama ist ein international anerkannter und sogar verehrter Verfechter ihrer Sache. Der tibetische Buddhismus geniesst im Westen seit jeher eine hohe Wertschätzung als Quelle spiritueller Inspiration. Die muslimischen Uiguren hingegen hatten niemals eine solch international bekannte Symbolfigur für ihren Widerstand. Hinzu kommt, dass der Islam als Religion im Westen bei weitem nicht so viel Interesse und Sympathie erfährt wie der tibetische Buddhismus.  


Vom Schicksal der muslimischen Minderheiten in Xinjiang, zu denen die Uiguren, Kasachen und andere zählen, gelangte über zu lange Zeit nichts ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. Das änderte sich erst mit der Veröffentlichung der vorhin erwähnten «China Cables». Bis dahin galt Xinjiang vor allem als Geheimtipp für ambitionierte Kulturtouristen.  


2014: Sprunghafter Anstieg der Inhaftierungen


Im Mai 2014 rief die chinesische Regierung die Kampagne «Hartes Durchgreifen gegen Terrorismus» aus. Im Juli 2016 wurde Chen Quanguo zum Parteisekretär von Xinjiang ernannt. In seiner Person trafen sich die uigurische und die tibetische Geschichte ein weiteres Mal. Bevor er nach Xinjiang gekommen war, war Quanguo als Parteisekretär in Tibet für sein brutales Vorgehen gegen die tibetische Bevölkerung berühmt-berüchtigt. Mit seinem Amtsantritt stieg die Zahl der Inhaftierungen in Xin­jiang sprunghaft an. Der Polizei- und Sicherheitsapparat wuchs um 90 000 Stellen.3  


Heute setzt China in Xinjiang modernste Überwachungstechnologien ein, sodass die Uiguren nun permanent und lückenlos unter Beobachtung stehen. Ganz Xinjiang ist zum Freiluftlager geworden, jeder Schritt wird überwacht, geringste Regelverstösse werden mit der Internierung in Konzentrationslagern geahndet. Tausende von Kindern werden dabei von ihren Eltern getrennt. Ständige Kontrolle und Repressalien sind Alltag für uigurische und andere muslimische Minderheiten und erfassen alle Lebensbereiche: Versammlungen, Sprache, Kultur, Religionsausübung, alles ist bei Strafe untersagt. Sogar das Kinderkriegen wird durch China geregelt: Recherchen zeigen, dass Frauen gewaltsam Methoden der Geburtenkontrolle unterworfen werden.


Direkte Einblicke in diese Tragödie bleiben extrem rar. Die Bilder und Nachrichten des Models Merdan Ghappar sind fast einmalig. Natürlich kann deren Veröffentlichung eine längere oder härtere Bestrafung für Ghappar mit sich bringen. Trotzdem sagen die­jenigen, die ihm nahestehen, es sei ihre letzte Hoffnung, um sowohl auf seinen Fall als auch auf die Notlage der Uiguren im Allgemeinen hinzuweisen. «Zu schweigen wird ihm auch nicht helfen», sagt Merdan Ghappars Onkel der BBC von seinem Exil in Amsterdam aus.


1,2 www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54592/china-xinjiang
3 Süddeutsche Zeitung 25.11.2019 und www.bpb.de (siehe Fussnote 1)

 
 

Dieser Beitrag basiert auf dem Text «Nicht ohne Grund gab Allah zwei Ohren, aber nur eine Zunge» von ACAT­-Luxemburg. Er wurde anfangs Februar 2021 in der Ausgabe «China-Menschenrechte-Luxemburg» der luxemburgischen Zeitschrift Forum veröffentlicht, welche für die vertiefte Lektüre sehr zu empfehlen ist.

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Kampagnendossier Karfreitag 2021 in Deutsch und Französisch (PDF)

 
 

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Eine ausfühlriche Analyse zu diesem Thema finden Sie im 160-seitigen Bericht von Amnesty International: «Like we were enemies in a war» (Juni 2021)