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Meditation Karfreitag 2020

 

Gedanken zu Karfreitag

 

Von Christoph Albrecht SJ

 

© Bild: Ursula Markus


Christoph Albrecht ist Elektroingenieur und Doktor der Theologie. Seit 1989 ist er Jesuit, seit 2010 im Jesuiten-Flüchtlingsdienst Schweiz und seit 2016 in der katholischen Seelsorge der Fahrenden in der Schweiz.

 

David* und Johannes* sind zwei junge Eritreer, die ich im Con­tainer-Lager am Rand der Piste 34 des Flughafens Zürich-Kloten regelmässig treffe. Es ist das Rückkehrzentrum (RKZ) für abgewiesene Asylsuchende. David hat mir kürzlich erzählt, welchen Weg er durch Äthiopien, den Sudan und Libyen gegangen ist, manchmal auf Lastwagen, manchmal zu Fuss. Unterwegs mit anderen und doch jeder für sich allein. Einmal marschiert die Gruppe während zwei Wochen praktisch ohne Wasser. Wie er das überleben konnte? Er weiss es nicht (mehr). Aber er erinnert sich, dass es nicht alle geschafft haben. Der Gedanke an die Angst, im Nirgendwo zu sterben, lässt sein Gesicht auch jetzt noch erbleichen.


Johannes erzählt mir nur andeutungsweise, was er in Libyen erlebte. Er versteht sich als einer, der nur dank göttlicher Vorsehung vor dem sicheren Tod errettet wurde. Und was fühlten die beiden beim Gedanken, dass andere es nicht überlebten? Diese Frage wagte ich nicht zu stellen.
David sagt mir, er sei Christ, Orthodox, und: «Gott ist für mich gestorben». Plötzlich ist in diesem absurden Drama des nackten Überlebenskampfes eine Dimension spürbar, die ihm offenbar das Weiterleben ermöglicht.


Das Echo des Karfreitags


Was kann das Erinnern der Passion Christi einem Menschen bedeuten, der selbst unsägliches Leid durchmacht? Am Karfreitag blickt die Christenheit auf den Weg zwischen Jerusalem und Golgatha. Die römische Besatzung hat wieder einmal ihre Todesstrafe gegen drei «gefährliche» Subjekte angeordnet. Dass da auch Jesus dabei ist, der so vielen Menschen geholfen hat und von dem man nur Gutes erfahren hatte, entsetzt Viele. Nicht alle sind davon gleich betroffen. Manche verstehen die Welt nicht mehr. Andere bleiben gleichgültig. Weitere ergötzen sich am Schauspiel der Gewalt. Die öffentliche Folter hatte damals vielleicht eine ähnliche Wirkung auf die Massen, wie heute die Kriegsfilme und Zerstörungsspiele am Computer.
Doch es gab auch diejenigen, die mit Jesus selbst in Kontakt waren, die ihm ein Stück nachgefolgt waren. Sie hatten nun Angst, von den Verfolgern mit Jesus in Verbindung gebracht zu werden. Sie schauten weg, rannten weg, verleugneten ihn und taten alles, um sich selbst zu schützen.
Und dann wissen wir auch von manchen – vorwiegend Frauen –, die Jesus nahestanden und von seinem Leid so betroffen waren, dass sie alle Angst um sich selbst vergassen und versuchten, Jesus nahe zu bleiben. Sie litten mit ihm die Qualen der Verzweiflung, organisierten die Kreuzabnahme, die Grablegung und gingen nach dem Pessachfest am frühen Morgen zum Grab, um Jesu Leichnam einzubalsamieren. So wurden sie auch zu den ersten Zeuginnen einer ganz anderen Wirklichkeit.


Kreuzabnahme heute


Ich selbst habe Krieg noch nie am eigenen Leib erfahren. Aber die Begegnungen mit Menschen, die ihm entkommen sind, vermitteln mir immer wieder eine Sicht auf die Zerbrechlichkeit des Lebens. Der Krieg, das grosse Monster, frisst nicht nur die Menschen, die ihm zum Opfer fallen, sondern beschädigt zutiefst auch alle jene, die als Überlebende daraus hervorgehen.


Der Krieg ist ein Ort der Straflosigkeit für Zerstörung und Vernichtung von allem, was nicht zur eigenen Seite gehört. Demokratische Republik Kongo, Zentralafrika, Südsudan, Afghanistan, Pakistan, Sri Lanka, Syrien, Palästina, Ukraine, Libyen, Westsahara, Nigeria, Jemen, Irak... Orte ungestrafter Gräueltaten.


Krieg ist auch dort, wo kein politischer Dialog zugelassen ist, wo Mitglieder oppositioneller Gruppen verfolgt werden, wo Minderheiten weichen müssen. Myanmar, Türkei, Iran, Honduras, Brasilien, China, Israel, Saudi-Arabien, Philippinen, Eritrea, Äthiopien, Ägypten, Marokko, Simbabwe... Orte ungesühnter Verfolgungen.


Krieg und die Gesetze der Entrechtung und Entmenschlichung herrschen auch in vielen Gefängnissen und Lagern, wo geflohene Menschen unbefristet und oft ohne Urteil festgehalten werden und nicht geahndeter Gewalt ausgeliefert sind.


Krieg in allen diesen Erscheinungsformen herrscht an viel zu vielen Orten. Ich traue den globalen Untersuchungen nicht, die nachweisen wollen, gemessen an der aktuellen Weltbevölkerung habe es noch nie so wenige Kriege und bewaffnete Konflikte gegeben wie heute. Und selbst wenn es stimmen würde, darf das kein Grund sein, die Weltlage zu verharmlosen. Denn zu beobachten ist, dass wichtige Institutionen wie die UNO und internationale Gerichtshöfe, auch NGOs und Gruppierungen der Zivilgesellschaft an Einfluss verlieren und immer weniger Gewalt verhindern können.
Doch überall dort, wo Menschen vor Konflikt und Krieg in Sicherheit gebracht werden – und auch dort, wo kriegstraumatisierte Menschen aufgenommen werden, wo ihnen geholfen wird in ihrer Trauer um die Getöteten und in der Aufarbeitung ihrer Traumata, geschieht so etwas wie eine Kreuzabnahme.


Alltägliche Auferstehung


Die Christenheit in allen Konfessionen, Kirchen und Gemeinden hat in der karfreitäglichen liturgischen Trauer um das Sterben Gottes einen ungeahnten Schatz der tiefen und universalen Solidarität mit allen Menschen, die noch immer «gekreuzigt» werden – in allen Formen ihrer zerstörten Leben.


Diese Solidarität kann nicht theoretisch bleiben. Solidarität ist nur, wo sie gelebt wird, wo wir bewusst hinschauen, hinhören, uns betreffen lassen, die Trauer annehmen und neuer Hoffnung Raum geben. Dann haben wir Kraft zu konkreten Taten, die zu einer Wirtschaftsordnung und zu einer Politik führen, die den Einzelnen hilft, einen ökologisch verträglichen Lebensstil zu pflegen, fair produzierte und gehandelte Produkte zu kaufen, geflüchtete Menschen aufzunehmen und sie, als gute Nachbarn, willkommen zu heissen.  


Das Evangelium nach Lukas und das Evangelium nach Johannes erzählen, wie der vom Tod Auferstandene zu seinen versammelten, verwirrten Jünger*innen tritt und als erstes zu ihnen sagt: «Friede sei mit euch!» Mit offenen Wunden beendet er den Krieg.


Wo sind wir herausgerufen, aus unserer Routine, aus unseren Ängsten, aus unseren Absicherungen? Wo können wir im Licht der Auferstehung, angesteckt von der Hoffnung, die unserem Leben Würde und Weite verheisst, die Todesangst hinter uns lassen? Den Krieg gegen die Elenden, die Armen, die Geflüchteten, die ausgebeutete Natur… beenden?


* Namen geändert