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Kampagne Menschenrechtstag 10.12.2019

 

117 000 km2 Gefängnis

 

Land ohne Morgen: Die Menschenrechtslage in Eritrea

 

In Eritrea hat nur der Präsident Rechte. Der Nationaldienst ist keine Anekdote im Leben, sondern ein jahrelanger, alles dominierender Zwangsdienst. Freiheit existiert nicht. Willkür und Angst begleiten die Eritreer und Eritreerinnen von der Wiege bis zum Tod. 

 
 
 
 
 
 

Dass Yonas* in seinem Heimatland Eritrea öfters im Gefängnis war, erzählt er erst zwei Stunden nach Anfang des Gespräches. Wenn der eine oder andere Soldat gerade keine Lust hatte, ihn trotz Bewilligung in eine Nachbarprovinz einreisen zu lassen, wurde Yonas eingesperrt. Er erwähnt es fast beiläufig. Man spürt, wie das Gefängnis zum Leben der Eritreer gehört. Der Tag aber, an dem Yonas seine Mutter weinen sah, weil Soldaten ihr Hab und Gut zerstört hatten, ist in Yonas‘ Erinnerungen gebrannt. Die örtliche Militärabteilung hatte das ganze Dorf gezwungen, in eine Stadt mit besserer Infrastruktur umzusiedeln. Die Dorfbewohner hatten einen Monat Zeit, um sich vorzubereiten. Doch sie weigerten sich. Daraufhin kamen die Soldaten und zerstörten das Haus von Yonas‘ Mutter; eine Warnung fürs ganze Dorf. Für den 34-jährigen, geduldigen und sanftmütigen Lehrer war dies der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Sein Vater war für diese Armee gestorben, und nun das. Er floh, weg aus diesem Land ohne Freiheit, ohne Zukunft.

 
 
 
 

Beweissuche in Kriminalroman-Stil 

Eritrea ist eine hermetisch geschlossene Diktatur. Das Land lässt sich nicht in die Karten blicken, Spuren- und Beweissuche zur Menschenrechtslage sind äusserst schwierig. Nicht einmal UN-Sonderberichterstatter werden ins Land gelassen. Berichte lesen sich teilweise wie Kriminalromane. Menschenrechtsorganisationen basieren ihre Einschätzungen auf zahlreiche Interviews mit Experten und Betroffenen; Einzelpersonen, die angesichts des skrupellosen Regimes meist anonym bleiben wollen. Regierungen wie die der Schweiz, die mit Tausenden Flüchtlingen aus Eritrea konfrontiert sind, wollen sich lieber selber ein Bild machen. Sogenannte «fact-finding missions» sollen überprüfen, inwiefern UN- und NGO-Berichte stimmen. So besuchte eine Delegation des Schweizer Staatssekretariats für Migration (SEM) das Land anfangs 2016. Und last but not least gibt es Politiker, die persönlich nach Eritrea reisen und mit ihren breit beachteten Äusserungen sowohl ihre Kollegen Entscheidungsträger als auch die öffentliche Meinung beeinflussen. So geschehen 2016, als SVP-Nationalrat Thomas Aeschi nach seiner Eritrea-Reise der Schweizer Nachrichtenagentur SDA unter anderem zu Protokoll gab, die Angestellten in Restaurants und Bars, welche dort ihren Nationaldienst leisteten, seien zwar schlecht bezahlt, aber «nicht angekettet» gewesen. Moderne Sklaverei habe er keine gesehen.

 

Freiheit: Note 2/100 

Trotz der diffusen Quellenlage sind sich ausländische Behörden, NGOs und Journalisten in vielen Punkten einig. Fakten sind etwa, dass die eritreische Verfassung aus dem Jahre 1997 immer noch nicht in Kraft ist, dass das Parlament seit mindestens fünfzehn Jahren nicht mehr getagt hat, dass Strafen ohne Prozess üblich sind und dass fast die ganze Bevölkerung ab der zwölften Klasse «Nationaldienst», sprich Zwangsarbeit für den Staat leisten muss – viele Menschen müssen zum Militärdienst, jahrelang oder sogar unbefristet. Der Lohn im Nationaldienst liegt bei fünfhundert Nafka, um die 35 Franken. Zwei Monatslöhne reichen für eine neue Jeans. Nach dem Friedensvertrag, den der eritreische Präsident Isayas Afewerki 2018 mit Äthiopien schloss, wurde eine Begrenzung des Nationaldienstes auf achtzehn Monate angekündigt. Passiert ist bisher nichts. Freedom House, eine amerikanische NGO, die weltweit den Grad der politischen Freiheit und der Bürgerrechte misst, vergibt Eritrea zwei Punkte von hundert. Zur fehlenden Freiheit kommen die vielen weiteren Alltagssorgen der Eritreer, wie die schreiende Armut oder die Tatsache, dass Krebsbehandlungen in Eritrea unmöglich sind. Auch psychisch sollte man besser nicht erkranken. Gemäss einer Kontaktperson der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) befinde sich der einzige eritreische Psychiater seit vierzehn Jahren in Haft. 

 

Gefolterte werden zu Folterern 

Yonas wohnt mittlerweile in einem 12m2-Studio in der Deutschschweiz. Als er gefragt wird, wie viele Gefangene damals in seiner Zelle, ähnlich gross wie sein heutiges Zimmer, untergebracht waren, lacht er. Er setzt sich in einer Ecke auf den Boden; sein Freund Tesfay* setzt sich zwischen Yonas‘ hochgezogene Knie. «So sassen wir dort während Wochen und Monaten», sagt Yonas. «Es war nicht erlaubt, die Beine zu strecken. Und wer den Wärtern eine Frage stellte, wurde geschlagen.» Ein fast 500-seitiger UN-Bericht von 2015 zur Menschenrechtslage in Eritrea lässt wenig Zweifel: Nicht nur solche erniedrigende und unmenschliche Behandlungen und Strafen sind an der Tagesordnung, sondern auch Folter. Sie werde sowohl auf Polizeiposten, in Gefängnissen als auch in Militärlagern angewandt – «systematisch», wie der Bericht betont. Folter solle Dienstpflichtverweigerer auf andere Gedanken bringen, Angst in der Bevölkerung säen und die Opposition mundtot machen. Es sei sehr wahrscheinlich, so der Bericht weiter, dass jungen Dienstpflichtigen, die während ihres Militärtrainings selber gefoltert wurden, die gleichen Foltermethoden beigebracht würden sobald sie als Trainer, Verhörbeamte, Gefängniswärter oder Grenzbeamte in Einsatz seien. Die 32 Seiten zum Thema Folter sind schonungslos detaillierte, üble Lektüre. Danach folgen fünfzehn Seiten über aussergerichtliche Hinrichtungen.

 
 

Eritrea in Zahlen

 
 

Juristenausbildung inexistent 

Wie zu allem in Eritrea gibt es auch zu den Haftbedingungen keine unabhängigen Untersuchungen. «Die eritreische Regierung gewährt keinen Zutritt zu Militär, Justiz und Gefängnissen», schrieb das SEM 2016 in seinem Bericht «Focus Eritrea». Das ganze eritreische Justizsystem ist in den Händen des Präsidenten und seiner Minister. Geschriebene Gesetze hätten faktisch wenig Bedeutung, hielt das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) 2015 fest. Eine Eritrea-Expertin schrieb der SFH 2017, dass seit 2006 keine universitäre Ausbildung von Juristinnen und Juristen mehr existiere.

 

Gefangen, geflohen 

Yonas’ Freund Tesfay konnte seine Schule nicht rechtzeitig informieren, als er seine schwer asthmatische Mutter ins weit entfernte Krankenhaus begleiten musste und zwei Wochen bei ihr blieb. Der damals Siebzehnjährige wurde von der Schule ausgeschlossen. «Unentschuldigte Ferien sind nicht erlaubt», so die Begründung. Tesfay musste den Militärdienst antreten. Er versteckte sich in den Bergen, doch nach einigen Monaten fand ihn das Militär und verhaftete ihn. In «Focus Eritrea» schildert das SEM die Vorgehensweise der Armee wie folgt: Wehrdienstverweigerer würden meist für einige Monate ohne Verfahren oder Anklage inhaftiert und danach in die militärische Ausbildung überführt, die häufig «unter prekären, haftähnlichen Bedingungen» stattfinde. 
Doch Tesfay gelang, elf Monate nach seiner Verhaftung, die Flucht aus dem Gefängnis und aus Eritrea.«Sie schossen auf mich – es ging um Tod oder FreiheitWoraufhin, als Vergeltung, sein Vater ins Gefängnis musste.Gemäss Recherchen der SFH wird eine solche «Reflexverfolgung» regelmässig angewendet. Tesfays Vater blieb im Gefängnis, «bis sich die Soldaten sicher waren, dass sie mich nicht mehr festnehmen konnten», so der junge Mann.

 

Frieden ohne Verbesserungen 

Der Friedensvertrag von 2018 zwischen Eritrea und dem Nachbarland Äthiopien liess viele Hoffnungen keimen. Doch im Juni 2019 stellte Daniela Kravetz, UNO-Sonderbeauftragte für Eritrea, fest: «Die Menschenrechtslage in Eritrea bleibt unverändert». Es gab in ihrem letzten Rapport übrigens ein Land, das Kravetz wegen seiner restriktiven Asylpolitik neuerdings besonders Sorgen bereitet: die Schweiz.

 

Yonas und Tesfay haben mittlerweile Freiheit und Zukunft gefunden. Doch die Angst bleibt. Yonas konnte seit seiner Flucht erst dreimal mit seiner Mutter telefonieren. Tesfay hat häufiger Kontakt zu seiner Familie, lebt aber in ständiger Sorge – um seinen zehnjährigen Bruder, der fliehen will; um seinen Onkel, der sich seit zwölf Jahren in den Bergen versteckt: um seine kranke Mutter. «Einmal fragte mich eine Frau im Bus: Bist du nur wegen dem Militärdienst hier?», erinnert sich Tesfay. «Wie hätte ich ihr alles erklären können?» Dann lacht er wieder. «Das ist nichts im Vergleich zu alldem, was ich erlebt habe.»

 

*Name geändert

 

Katleen De Beukeleer, Kampagnen & Kommunikation ACAT-Schweiz

 

→ Weitere Links & Infos zum Thema

 

 
 
 

Mehr dazu

 

Die Karfreitagskampagne 2020 vertieft diese Thematik anhand von fünf Geschichten von Betroffenen.

 
 

Dossier als PDF

 

 

Kampagnendossier zum Menschenrechtstag 2019 in

Deutsch, Französisch oder Italienisch (PDF)

 
 

Verlautbarung  Landeskirchen

 

 

«Raum lassen»:
Beitrag der drei Landeskirchen und der Freikirchen der Schweiz zum Menschenrechtstag 2019

 

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(auch verfügbar in Französisch und Italienisch)